Warum spricht man heutzutage immer öfter von den so genannten urban struggles? Worum wird in diesem Fall gekämpft und warum ausgerechnet in der Stadt? Urbane Kämpfe finden eigentlich in einer Gesellschaft statt und gerade als gesellschaftliche Kämpfe sind sie auch politisch. Warum reden wir dann von urbanen und nicht gleich von sozialen oder politischen Kämpfen?
Diese Fragen werden hier gestellt, vor allem deshalb, weil sie sonst überflüssig sind. Wenn man von urban struggles spricht, scheint es nämlich, als würden alle gleich wissen, worum es sich dabei handelt – um eine bestimmte Form des linken politischen Engagements: gegen den globalen Kapitalismus, gegen Sozialabbau, gegen neoliberale Privatisierungen, für die Rechte der Minderheiten oder MigrantInnen, usw. Diese politischen Kämpfe, die wir oft unter dem Begriff des Widerstands zusammenfassen, finden zwar meistens im urbanen Raum statt, doch die Stadt ist dabei mehr als bloßer Schauplatz dieser Kämpfe. Sie ist die Sache selbst. In den urbanen Kämpfen wird nicht bloß in der Stadt, sondern vielmehr – und in einem noch nicht gänzlich geklärten Sinne – um die Stadt gekämpft.
Warum aber kämpft man um die Stadt? Die Antwort ist einfach - weil man nicht mehr um Gesellschaft kämpfen kann. Jene Gründe, um die gekämpft wird – etwa um eine Rückeroberung des auf diese oder jene Weise privatisierten öffentlichen Raums - haben ihre gesellschaftliche Bedeutung verloren. Das bestimmt auch den politischen Charakter der urbanen Kämpfe. Politisch betrachtet, sind sie postsoziale Kämpfe.
Um eine der grundlegenden historischen Erfahrungen zu beschreiben, die die spätkapitalistischen Gesellschaften in der neoliberalen Transformation gemacht haben, hat Stefan Nowotny den Begriff des Postsozietalismus eingeführt.1 Nota bene: Postsozietalismus, nicht Postsozialismus. Obwohl beide Begriffe eigentlich eng miteinander verbunden sind, verweist ihre Unterscheidung auf eine historische Veränderung, die viel tiefer greift als jene epochalen Ereignisse, die man üblicherweise unter dem Begriff der »Demokratischen Revolutionen von 1989« zusammenfasst und als Untergang der osteuropäischen »Realsozialismen« versteht. Der Begriff des Postsozietalismus indiziert, dass mit der postsozialistischen Wende nicht nur ein bestimmter Typus der auf der sozialistischen bzw. kommunistischen Ideologie aufgebauten gesellschaftlichen Ordnung untergegangen ist, sondern dass möglicherweise Gesellschaft als solche an unserem historischen Horizont verschwunden ist. In der Tat impliziert diese These eine weitere Umdefinierung unserer neuesten Geschichte. Statt über »Die Demokratischen Revolutionen von 1989« zu sprechen, scheint es jetzt viel plausibler zu sein, einer zwar nicht so spektakulären, doch – gemessen an ihren Konsequenzen – weit wichtigeren Zeitenwende Beachtung zu schenken: der neoliberalen Revolution, die ihren Ausgang in Südamerika der siebziger Jahre nahm – konkret mit dem Militärputsch in Chile 1973 –, und erst vor kurzem mit dem so genannten credit crunch 2008 ihr historisches Limit erreicht hat. Aus dieser Perspektive erscheinen die Ereignisse von 1989 als ein relativ kleines Detail eines viel größeren historischen Bildes, das gerade das darstellt, was an ihm eigentlich fehlt, nämlich die verschwindende Gesellschaft.
Laut Nowotny sichert der Neoliberalismus seine unbestrittene Herrschaft über die postsozialistische Welt auf dreifache Weise. Zuerst präsentiert er sich als Träger des universalistischen Prinzips, das in verschiedenen, partikulären Situationen angewendet wird. Damit werden universalistische Ansprüche konkurrierender sozialer bzw. sozialistischer Doktrinen, etwa des Sozialismus oder der Sozialdemokratie, partikularisiert. Diese erscheinen jetzt als Sonderfälle und sollen ihnen spezifisch angepassten Reformen unterwerfen werden. Zweitens tritt Neoliberalismus global auf. Als solcher bestimmt er die Norm, nach welcher verschiedene Gesellschaften im Sinne der Globalisierung transformiert werden sollen, um sich in die »world order« einschreiben zu dürfen. Letztendlich präsentieren sich die neoliberalen Doktrinen nach 1989 als Trägerinnen nicht nur des postsozialistischen, sondern vor allem, wie Nowotny schreibt, des postsozietalen Prinzips.
Doch was heißt »sozietal« (societal)? Der Unterschied zu »sozial« (social) wird klar im konkreten historischen und politischen Kontext, in dem die neoliberale Transformation stattfindet. Im Prinzip erfolgt sie in der Form einer rechtskonservativen, antisozialistischen Politik, die ihre Ziele oft mit offener Gewalt erreicht. Der Militärputsch in Chile sowie der Terror der Militärjunta in Argentinien der siebziger Jahre sind die besten Beispiele praktischer Implementierung neoliberaler Ideen. Das Hauptziel des Terrors war die Zerstörung bestimmter gesellschaftlicher Strukturen, in denen die neoliberale Politik Hindernisse für die Entwicklung des privaten Unternehmens und freien Marktes sieht. Worum es eigentlich in diesem zerstörerischen Angriff auf die Gesellschaft geht, wurde erst später klar. Es ging um die Gesellschaft selbst. Niemand hat so klar und eindeutig die Wunschphantasie der neoliberalen Ideologie zum Wort gebracht wie Margaret Thatcher – die Politikerin der neoliberalen Wende schlechthin. In einem Interview aus dem Jahre 1987 behauptete sie schlicht und einfach, dass es Gesellschaft nicht mehr gibt. Es gebe individuelle Männer und Frauen, es gebe Familien, nur es gebe keine Gesellschaft: »There is no such thing as society.«2 Diesen berühmten Satz, der noch heute als eine Art Motto zur Epoche der neoliberalen Hegemonie stehen dürfte, sagte keine Sozialwissenschaftlerin, keine Theoretikerin, sondern eine Politikerin, deren Worte performative Kraft hatten. Dass es Gesellschaft nicht gibt, war keine wissenschaftlich objektive Einsicht in die Realität, wie sie wirklich war, sondern ein politisches Programm – die Aufforderung zur Vernichtung aller Formen der sozialen Solidarität, um damit den Platz für Individualismus, privates Eigentum, persönliche Verantwortung, Familienwerte, usw. zu machen; dass es Gesellschaft nicht gibt, hieß auch, dass sich das Private auf Kosten des Öffentlichen grenzenlos verbreiten darf. Gerade im urbanen Raum wurden die Ergebnisse dieser Politik mit bloßem Auge sichtbar. Dort provozierten sie auch neue politische Konflikte. So wurde die Linie der privaten Expansion, vor welcher sich Gesellschaft zurückziehen musste, zur fought line des urbanen Raumes. Sie verläuft aber nicht zwischen zwei sich gegenseitig bekämpfenden Teilen der Gesellschaft, sondern trennt die neoliberalen FeindInnen der Gesellschaft von denen, die Gesellschaft, bzw. das, was von ihr übrig geblieben ist, verteidigen. Hier widersetzt man sich dem Ausbau einer shopping mall, weil dadurch öffentlicher Raum, etwa eine Parkanlage, verschwinden sollte; dort kämpft man um einen Kinderspielplatz, der einer neuen Autobahn geopfert werden soll. Es geht um billiges Wohnen, um das Recht auf Nutzung der öffentlichen Räume, um das, was vielen und nicht nur einzelnen und ihren partikulären Interessen dient. Kurz, es geht um eine Reartikulierung der alten sozialen Frage, eine Reartikulierung, die in dem von neoliberalen Kräften okkupierenden urbanen Raum stattfindet.
Selbst wenn man die Gesellschaft verteidigt, kämpft man in der Tat nie um Gesellschaft selbst, sondern um bestimmte soziale Werte. Deshalb macht es auch keinen Sinn, mit den selbsterklärten Feinden der Gesellschaft, wie etwa Margaret Thatcher, darüber zu streiten, ob es »such a thing as society« gibt oder nicht gibt. Gesellschaft ist kein thing.
Das Aufkommen des modernen Gesellschaftsbegriffs ist eng mit dem Entstehen der so genannten sozialen Frage verbunden. Diesem Thema hat der französische Soziologe Robert Castel ein Buch gewidmet: Die Metamorphosen der sozialen Frage.
Eine Chronik der Lohnarbeit.3 Castel fokussiert sein Interesse auf eine wichtige soziale Transformation, die im 18. und 19. Jahrhundert die industrielle Revolution begleitet hat und die man auch als eine Art Revolution verstehen soll. Die Rede ist von der rechtlichen Regulierung der Arbeitsverhältnisse, die einerseits den freien Zugang zum Arbeitsmarkt garantiert, anderseits aber die Lohnarbeit in der Form eines Vertragsverhältnisses in das Rechtssystem integriert hat. Doch bald zeigte sich, dass die Struktur der freien Arbeitsverträge zerbrechlich und das neue Arbeitssystem nicht in der Lage ist, massive Pauperisierung zu verhindern. Um diese Effekte abzufedern, mussten verschiedene Formen der sozialen Politik entwickelt werden. Deshalb sieht Castel in der sozialen Frage jene fundamentale Aporie, in welcher die Gesellschaft das Rätsel ihrer Kohäsion, aber auch das Risiko ihres Zerfalls erfährt. Diese Erfahrung hat eine historische Form und drückt nicht nur eine spezifische Vielfältigkeit von individuellen Erfahrungen aus, sondern auch die Formen, in denen diese Erfahrungen geteilt bzw. öffentlich und politisch repräsentiert werden.
Erst in diesem Kontext macht der Unterschied zwischen »sozial« und »sozietal« einen Sinn. »Während uns der erste Begriff ermöglicht, gesellschaftliche Relationalität ins Auge zu fassen«, schreibt Nowotny, »bezieht sich der zweite auf die repräsentierbare Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse«.
Gesellschaft auf der Ebene ihrer repräsentierbaren Totalität ist eigentlich Nation bzw. Nationalstaat. Gerade auf dieser Ebene konstituiert sich laut Castel die Gesellschaft durch den Prozess einer doppelten Inklusion: die der individuellen Arbeitskraft in die Produktivität der Nation und die der Individuen in das Rechtssystem des Nationalstaates. Und zwar durch die Erteilung der bürgerlichen und sozialen Rechte bzw. durch die Erteilung der bürgerlichen als soziale Rechte. Erst durch diese doppelte Inklusion erscheint Gesellschaft in ihrer modernen Form als eine im Nationalstaat organisierte Nation, die aus den mit den genannten Rechten ausgestatteten Individuen besteht.
Das Phänomen der gesellschaftlichen Erosion – etwa im Sinne eines Verschwindenlassens der Gesellschaft, 4 von der Margaret Thatcher redet und welche die neoliberale Politik praktisch verwirklicht – kann laut Nowotny als ein Auseinanderfallen dieser zwei Funktionen der gesellschaftlichen Inklusion verstanden werden. Ein konkretes Beispiel ist die Situation der so genannten Menschen ohne Papiere. Die Rede ist von MigrantInnen, die zwar den Zugang zum nationalen Arbeitsmarkt finden, aber keine bürgerlichen und/oder sozialen Rechte bekommen. Genau dieser Umstand – den Nowotny »filtrierte Inklusion« (filtered inclusion) nennt – ermöglicht eine Profitmaximierung im Rahmen der nationalen Ökonomie. Die ideale Arbeitskraft in einer modernen, im Nationalstaat organisierten kapitalistischen Gesellschaft bilden gerade jene Menschen, die keine Mitglieder dieser Gesellschaft sind. Man kann sie bis zum natürlichen – nicht also bis zum gesellschaftlichen – Limit ausbeuten. Während das natürliche Limit eigentlich das Limit ihrer körperlichen Konstitution ist, wird das gesellschaftliche von den real existierenden Formen der sozialen Solidarität bestimmt. Genau diese Solidarität ist das wahre Ziel einer Politik der neoliberalen Reformen, die Thatcher realisiert hat. Eine Gesellschaft ohne Solidarität ist eben keine Gesellschaft. Deshalb konnte die ehemaligen britische Premierministerin so selbstbewusst behaupten: »There is no such thing as society«. Die konkreten historischen Folgen der neoliberalen Wende fasst Nowotny auf folgende Weise zusammen: »Der Nationalstaat funktioniert also immer weniger als politische Repräsentationsform der ›Gesellschaft‹. Er bietet auch nicht mehr den Horizont der ›Gleichheit‹ oder zumindest der ›sozialen Sicherheit‹ und zwar weder für die Menschen, die er nicht einmal versucht zu repräsentieren, noch für die Menschen, die er vorgibt zu präsentieren.« Genau darin sollten wir klare Symptome des aufkommenden Postsozietalismus erkennen, zu denen letztendlich auch die urban struggles gehören. Wenn man um die Stadt kämpft, kämpft man in einer verschwindenden Gesellschaft.