Das "Gedenkjahr" unter der schwarz-blauen Regierung war eindeutig ein Symptom. Und zwar nicht in dem, was es an Erwartbarem, sondern gerade in dem, was es an Unerwartetem gebracht hat. Denn in diesem hat sich, nahezu unbemerkt, nichts weniger als eine Veränderung des gesamten Erinnerungsdispositiv dieser Republik manifestiert.
Vertreter und Kritiker der "Opferthese" standen und stehen zwar immer noch bereit, ihre alten Gefechte wieder aufzunehmen – aber sie liefern nicht mehr als das Getöse, das die neuen Töne überdeckt. Obwohl diese sich doch keineswegs versteckt äußern. Sie hatten vielmehr einen prominenten Platz erobert: den offiziellen Diskurs. Dieser neue Ton ließ sich in Stellungnahmen der schwarz-blauen Regierung vernehmen, die von einem "veränderten Umgang Österreichs mit seiner Vergangenheit" sprachen. War dies die Läuterung, die die Kritiker seit Jahren eingemahnt haben?
Zunächst einmal: Die These, daß Österreich das erste Opfer des Nationalsozialismus war, ist nicht mehr zentral. Es gab von offizieller Seite eine partielle Anerkennung des eigenen Tätertums. Wir sind diesbezüglich zwar noch immer weit von deutschen Verhältnissen entfernt. Aber immerhin. Der Blick nach Europa, die Notwendigkeit, ein europäisches Gesicht Österreichs zu präsentieren, haben solch eine späte - und heute billig zu habende - Veränderung bewirkt.
Worin besteht nun dieser "Umbau des Staatsmythos" (Franz Schandl)? Zum einen wurde die offizielle Doktrin der Verdrängung des Nationalsozialismus abgelöst von einem Narrativ, welches die NS-Zeit und deren Ende zur Ursprungsgeschichte der Zweiten Republik macht. Diese Entwicklung der offiziellen Position zeichnet übrigens in erstaunlicher Weise jene des kritischen Diskurses nach: Stützte sich 1986 die Kritik an Waldheim noch auf die Verdrängungsthese, so gründete der Einspruch gegen Schwarz-blau vornehmlich auf der NS-Erfahrung als Gründungsgeschichte dieser Republik. Sprachen also rechte Regierung und (außerparlamentarische) Opposition plötzlich eine Sprache, wurde die bisherige Kritik zum offiziellen Diskurs? Anders gefragt: Sind wir nun näher bei der Wahrheit? Tatsächlich muß man sagen, der neue "Staatsmythos" ist vielmehr "wahrer als wahr".
Denn ihm gelingt es, die Geschichte einer schuldhaften Verstrickung und deren Scheitern - also alles andere als eine glanzvolle Erzählung - in das zu verwandeln, was man eine "Jupiterhistorie" nennen könnte. So bezeichnet Michel Foucault eine Geschichte, deren Funktion darin besteht, "ein Ritual zur Stärkung der Souveränität zu sein". Wie diese erstaunliche Leistung zustande kommt, diese Vergangenheit in eine Siegeserzählung zu verwandeln, ist eine nähere Betrachtung wert.
Wichtigste Strategie bei dieser Umcodierung ist es, das private Erinnern ins Zentrum zu rücken. Die gefühlte Geschichte füllt nunmehr den gesamten Erinnerungsraum: Die Gründungsgeschichte der Republik wird als subjektiv erlebte Leiderfahrung erzählt. Damit wird die - nach dem Wort des deutschen Historikers Norbert Frei - "demokratiepolitisch notwendige Unterscheidung zwischen privater Erinnerung und staatlicher Geschichtsrepräsentation" eingeebnet. Diese gedenkpolitisch wesentliche Verschiebung hat einen doppelten Effekt.
Zum einen eröffnet sie einen biographischen Blick auf die Geschichte. Dies bedeutet heute, 60 Jahre danach, vorwiegend jenen einer Familienerinnerung, die nicht mehr hauptsächlich an eine eigene Erfahrung gebunden ist. Dabei kommt es naturgemäß zu Konstruktionen, in denen versucht wird zu rationalisieren, zu exkulpieren - kurz, ein identifizierbares Gutes auszumachen. Geschichte als Erinnerung an innerfamiliäres Leid vollzieht sich vor allem unter dem Zeichen des Verstehens.
Solche Privatisierung rückt statt gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge den Menschen als Einzelnen in den Vordergrund. Bedeutet dies einen Zugewinn an Konkretion? Nicht nur wird den privaten Zeugnissen ein Überschuß an Authentizität und Glaubwürdigkeit gegenüber allgemeinen historischen Analysen zugebilligt, so sollen diese auch einem verbreiteten Begehren genügen: dem Begehren des Nachfühlens. Der Beginn dieser Art von Konkretion war die Veranschaulichung des historischen Geschehens. Der deutsche Filmemacher Harun Farocki etwa setzt die Zäsur mit Ausstrahlung der amerikanischen TV-Serie "Holocaust" an, die erstmals versucht hätte, das unbegreifliche Geschehen durch ein, wie er es nennt, "falsches Bild von Auschwitz", zu visualisieren. Falsch sei diese Veranschaulichung, weil sie versuchen würde, ein absolutes Ausnahmegeschehen mit den Mitteln der melodramatischen Bildsprache der "Alltagserfahrung anzupassen". Damit begann die Wende zu dem, was sich heute in einem wahren "Vergegenwärtigungs- und Veranschaulichungstaumel" (Die Zeit) zu verwirklichen sucht: die Suche nach dem Erleben der Historie. Denn dies ist die heute vorherrschende emotionale Disposition. Die Vergangenheit soll erlebt, gefühlt werden. Schon 2003 titelte die Süddeutsche Zeitung einen Kommentar mit "Tausche Geschichte gegen Gefühl". Die Aufwertung der Erfahrung des Einzelnen gegenüber den allgemeinen Zusammenhängen entspricht der vorherrschenden Emotionalisierung der Nachgeborenen, die damit endgültig zum Publikum geworden sind.
Das Problem des Erlebens ist nicht nur, daß das Denken gegen das Fühlen eingetauscht wird. Sondern auch, daß Gedenken nur dann wirksam wird, wenn es ein identitätspolitisches Angebot bedeutet - und nicht, wie fälschlicherweise immer moniert wird, qua Aufklärung und Wissen funktioniert. Wird nun die Vergangenheit zum Erlebnis, dann verliert das Gedenken seine fundierende Dimension. Anders gesagt: Emotionalisierung bedeutet Entpolitisierung des Gedenkens. Die allgemeine Erhitzung der Erinnerungsgemüter läßt die Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern verschwimmen.
Das unterscheidet das Erleben von anderen, früheren Formen des emotionalen Vergangenheitsbezugs - etwa der vielgescholtenen "Empathie". Die frühere Bundesrepublik Deutschland war die Hochburg dieser gefühligen Verbindung mit den Opfern. Ich erinnere mich an eine Folge der "Lindenstraße" - jene TV-Serie, die alle deutschen Befindlichkeiten in alltagstaugliche Konflikte zu übersetzen wußte -, wo dieser Drang seinen idealen Ausdruck in den pubertären Aufwallungen einer Jugendlichen fand, die ihn in der Rasur ihres Haupthaares auslebte, um sich derart kahlköpfig ihrer schockierten Umwelt als Erinnerung an einen KZ-Häftling zu präsentieren. Norbert Frei bemerkte, daß diese Form der Empathie, der Identifikation mit den Opfern des Holocausts, Ausdruck einer bewußten Distanzierung gegenüber der Elterngeneration bedeutete. Die heute vorherrschende Form des Vergangenheitsbezugs hingegen sucht eine Aussöhnung mit den Tätereltern. Auch wenn die Empathie scharfe Kritik erfuhr als "unangemessene Wärme, als Einfühlungs- und Angemessenheitsbegehren" (Diedrich Diederichsen), so hatte sie doch den Vorteil, den Antagonismus zwischen Opfern und Tätern aufrechtzuerhalten. Eine Differenz, die heute zunehmend verschwindet. Die immer wieder als verlogen gescholtene Identifikation mit den fremden Opfern hat sich zur Entdeckung des eigenen Opfertums verschoben.
Damit sind wir beim zweiten Effekt der Privatisierung des Gedenkens angelangt: der Entpolitisierung der Geschichte. Denn die Konkretion des Persönlichen ist gleichzeitig auch eine Abstraktion: Sie läßt alle näheren Bestimmungen hinter sich und schließt die Erfahrungen des Einzelnen unmittelbar mit dem allgemein-menschlichen Leid in einem neu definierten, universellen Opferbegriff kurz. Damit entsteht ein ganz anderer Opfermythos. Und dieser fügt sich nahtlos in die gegenwärtig vieldiskutierte europäische Gedächtnispolitik ein.
Bislang galt der Zweite Weltkrieg als Gründungsmythos der Europäischen Union, die die ehemals blutigen Differenzen in einem einigenden "Nie wieder!" überwinden sollte. Nun wird europaweit, speziell in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, diese Perspektive in Frage gestellt. Federführend dabei ist der bekannte polnische Journalist Adam Krzeminski, der die Behauptung aufstellte, es gäbe - entgegen dem vielbeschworenen Gründungsmythos - keinen gemeinsamen europäischen Blick auf die Zeit von 39-45, sondern nur konkurrierende nationale Erzählungen. Europa sei geprägt von einem wahrhaften "clash" nationaler Mythen, so sein prägnantes Wort, welcher die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg anhaltend in unterschiedliche nationale Geschichten aufteile. Die Hoffnung für Europa, so versteht man den Text, läge in der Befreiung von diesen trennenden Bildern der Vergangenheit, um eine wahrhaft gemeinsame Perspektive zu gewinnen. Unausgesprochen schwingt da mit, daß solch eine einzige, einigende Version jenseits der - nationalen - Mythen angesiedelt wäre - ein Ankommen also bei der historischen Wahrheit wäre.
Mit dem französischen Lacanianer Jean-Claude Milner ließe sich dagegen ein doppelter Einspruch erheben: nicht nur wird diese Analyse dem aktuellen Stand der Dinge nur sehr partiell gerecht, auch scheint diese Hoffnung äußerst trügerisch. Milner entwirft ein Bild, in dem sich ein europäischer demos von der Vorstellung des EINEN Volkes, also eines begrenzten Ganzen, hin zu jener eines unbegrenzten Ganzen entwickelt, das tendentiell alle inkludiert und zunehmend keine Ausnahmen mehr kennt. Durch seine konstante Erweiterung werde Europa zunehmend zu einer unabgeschlossenen, unbegrenzten, allumfassenden Einheit. Bedingung für solch ein Europa sei aber, "das Auslöschen aller trennenden historischen Traditionen und Legitimationen". Mit Milner muß man gegen Krzeminski also einwenden: die von ihm erhoffte Befreiung von den trennenden Narrativen findet längst statt. Deren andere, nachhaltigere Seite läßt sich mit Milner in der genau gegenteiligen Bewegung erkennen: die nationalen Differenzen der Erinnerung werden zunehmend aufgehoben, ohne daß sich Krzeminskis Hoffnung damit realisieren würde. Denn tatsächlich ist die so vollzogene Einheit (neben neuer Ausschlüsse) keineswegs der Schritt über die Mythen des Gedenkens hinaus. Das Verschwinden der differierenden nationalen Erzählungen bedeutet keineswegs die Vorherrschaft der historischen Wahrheit, sondern vielmehr das Aufkommen eines neuen Mythos: die nationalen Heldenlegenden werden ersetzt durch jene eines abstrakten Leidens und eines verallgemeinerten Opfertums. Die moralische Gleichsetzung aller Opfer des Zweiten Weltkriegs ist längst über den Revisionismus hinaus zu einem allgemeinen Diskurs geworden, der die generelle Anerkennung aller Leiden einfordert. Entgegen dem europäischen Gründungsgedanken steht diese im Zeichen einer Viktimisierung, die so abstrakt und so allgemein ist, daß sich alle Seiten darin wiederfinden können - sei es das Leiden der Deutschen unter den Alliierten Bombardements, sei es jenes der Vertriebenen oder jenes der Österreicher, die sich - wie gesagt - allmählich von ihrem nationalen Mythos, nämlich erstes Opfer Hitlers gewesen zu sein, verabschieden, nur um sich umgehend in die Abstraktheit des allgemeinen Kriegsleidens einzureihen, die es erlaubt, von allen Kontexten abzusehen. Genau diese Leiderzählung ermöglicht es dem herrschenden Diskurs hierzulande paradoxerweise, deren heroische Überwindung darzustellen: Sie eröffnet das Feld für die Jupiterhistorie, die den Trümmern wie ein Phönix aus der Asche entsteigt. Die alte DDR-Hymne könnte das Motto liefern: Auferstanden aus Ruinen.
Dieser neue Opferstatus ist ambivalent. Er bedeutet das Einreihen in ein Allgemein-Menschliches, erlaubt aber gleichzeitig, als Opfer einen "Distinktionsgewinn zu erzielen" (Norbert Frei). Das mag vielen nationalen Geschichtserzählungen – wie etwa der österreichischen - als Befreiung erscheinen. Wenn diese Opferidentität aber das spezifisch Europäische wird, dann wäre dies eine pervertierte Realisierung des einigenden Gründungsgedankens. Der einheitliche Blick auf die Vergangenheit läßt sich offenbar nur durch ein Weniger an Konkretion und nicht durch ein Mehr an Wahrheit erreichen.