Aktivistische Medien Morgen*
Was geschah eigentlich zur Jahrtausendwende, als zahllose Aufnahmegeräten an das Internet angeschlossen waren und das World Wide Web zu einem elektronischen Prisma wurde, in dem sich all die verschiedenen Farben eines einzigen antikapitalistischen Kampfes spiegelten? Welche Art von Bewegung ist es eigentlich, die mit Samba-Bands und Videokameras auf die Barrikaden steigt und in einem Labyrinth aus Hyperlinks und Straßen eine Landkarte aus Körpern bildet? Nahezu zehn Jahre sind seit Seattle vergangen, und wir verstehen die Rolle dezentralisierter Medieninterventionen als Katalysator für Basis- Aktionen auf globaler Ebene immer noch nicht. Es sieht so aus, als müsste die populäre Vorstellung von "Taktischen Medien" zugunsten einer neuen Idee aufgegeben werden, die näher an dem ist, was sich zwischen Städten und Bildschirmen ereignet.
Der Mobilisierungsprozess für globale Widerstandsaktionen wurde ohne Zögern als "Selbstorganisation" bezeichnet, weil es keine hierarchischen Kommandostrukturen gab. Gleichzeitig wurde das sternförmige Muster von Netzwerk-Grafiken zum Emblem eines kooperativen Potenzials, welches die "Bewegung der Bewegungen" auszuzeichnen schien. Wie Naomi Klein 2000 kurz nach den IWF-Protesten in Washington schrieb: "Was in den Straßen von Seattle und Washington entstanden ist, ist ein aktivistisches Modell, das die organische, dezentralisierte, verlinkte Struktur des Internet spiegelte – das Internet erwachte zum Leben. Das Washingtoner Forschungszentrum TeleGeography hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Architektur des Internet zu kartografieren ... und zwar nicht als ein einziges riesiges Geflecht, sondern als Netz mit Drehscheiben und Speichen. Die Drehscheiben sind die Zentren der Aktivität, die Speichen sind die Verbindungen zu anderen Zentren, die autonom, aber miteinander verknüpft sind." 1
In dieser Aussage sind zwei wesentliche Ideen zusammengefasst. Die eine betrifft das Internet als ein alle Kanäle umfassendes Geflecht, in dem jeder Knoten mehrfach mit allen anderen Knoten verbunden ist. Letztlich ist jedes Element von allen anderen nur durch wenige Stufen getrennt – es handelt sich um eine abgeflachte Hierarchie. Die andere betrifft eine spezifische Form des Erscheinens, wie sie für große Populationen lebender Organismen charakteristisch ist, etwa Ameisen oder Bienen: hier wird das Verhalten der Gruppe in Echtzeit koordiniert und entspricht Zwecken, die jenseits der Reichweite der einzelnen Mitglieder liegen. Das In-Erscheinung-Treten beschreibt einen Moment der Möglichkeit – eine Phasenänderung in einem komplexen System. Diese beiden Ideen wurden in den frühen Neunziger Jahren zusammengeführt, und zwar in der Gestalt des vernetzten Schwarms, die von Techno-Visionär Kevin Kelly in seinem Buch Out of Control beschrieben wurde. Sie kommen aber auch schon in Deleuzes und Guattaris Tausend Plateaus vor, und zwar in Form des Rhizoms, des Packs und der nomadischen Kriegsmaschine.
Woraus beziehen emergente Aktionen ihre Form und ihre Regelmäßigkeit? Wie kann der Zusammenhalt von selbstorganisierten Gruppen und Netzwerken verstanden werden? Das Wort "schwärmen" bezieht sich auf ein Muster der Selbstorganisation in Echtzeit, welche aus dem Nichts zu kommen scheint und dennoch sofort erkennbar ist, weil es sich rhythmisch wiederholt. Strategen haben darunter ein Muster des Angriffs verstanden, wobei die klassische Definition von den RAND-Theoretikern Arquilla und Ronfeldt stammt: "Schwärmen liegt dann vor, wenn sich die verstreuten Einheiten eines Netzwerks kleiner (und möglicherweise mancher großer) Kräfte aus mehreren Richtungen auf das Ziel zubewegen. Das übergeordnete Ziel ist nachhaltiges Pulsieren – Schwarm-Netzwerke müssen in der Lage sein, sich rasch und unerkannt um ein Ziel herum zu formieren, um sich dann aufzuteilen und neu zu verstreuen und gleich wieder bereit zu sein, sich für eine neue Pulsbewegung neu formieren."2 Arquilla und Ronfeldt haben die Puls-Taktik in Zusammenhang mit den komplexen Mustern der medialen und ortsgebundenen Unterstützung der Zapatisten untersucht, durch die der mexikanische Staat daran gehindert wurde, diese zu isolieren und zu vernichten. Interessanterweise war das "Ziel" hier die unterdrückerische Praxis des Staates. Die Schwarmtaktik wurde jedoch erst mit der erfolgreichen Blockade des WTO-Meetings in Seattle zu einer globalen Realität, und zwar hauptsächlich durch das Direct Action Network (DAN).
Das DAN setzte das Schwärmen als Komponente einer breiteren Strategie ein, um gewerkschaftliche Demonstranten für eine radikale Blockade des Meetings zu gewinnen. Arquilla und Rondfeldt hatten plötzlich einen Beweis für ihre Theorien in der Hand.3 Seither haben amerikanische und israelische Militärtheoretiker Schwarmverhalten analysiert und versucht, es als Doktrin zu verwenden. Das Militär kann jedoch aufgrund seiner Kommandohierarchien niemals vollständig selbstorganisiert sein. Entsprechende Versuche führen in die Katastrophe, wie Eyal Weizman gezeigt hat.4 Schwärmen enthält etwas, was sich nicht befehligen lässt. Was es daher zu verstehen gilt, ist die "Ökologie" emergenten Verhaltens, um ein Wort zu verwenden, welches eine dynamische, fraktale Einheit impliziert: eine Einheit des Vielen, und eine Vielheit des Einen.
Zwei Faktoren können den Zusammenhalt selbstorganisierter Aktionen erklären. Der erste ist die Fähigkeit zur zeitlichen Koordination auf Distanz: der Austausch von Informationen, aber auch Affekten, über singuläre Ereignisse an spezifischen Orten. Dieser Austausch wird zu einem Fluss sich ständig verändernder und ständig neu interpretierter Hinweise über mögliche Verhaltensweisen innerhalb einer gemeinsamen Umgebung. Doch die zeitliche Abstimmung hängt noch von einem zweiten Faktor ab, nämlich der Existenz eines gemeinsamen ästhetischen, ethischen, philosophischen und/oder metaphysischen Horizonts, der bewusst über einen längeren Zeitraum aufgebaut wird und es den verstreuten Mitgliedern eines Netzwerks ermöglicht, einander innerhalb eines gemeinsamen Vorstellungs- und Referenzraums wiederzuerkennen. Medien, die in dieser Weise eingesetzt werden, sind mehr als bloß Information: sie sind ein mnemotechnisches Bild, welches eine Welt der Empfindung öffnet und im günstigsten Fall die Möglichkeit der Antwort, des dialogischen Austauschs, der Neuschöpfung bietet. Stellen wir uns also aktivistische Medien als den kontinuierlichen Prozess der "Welterzeugung" innerhalb einer weitgehend fragmentierten und rudimentären Marktgesellschaft vor.5
Ein Beispiel ist Indymedia, das 1999 im Zuge der WTOProteste in Seattle entstanden ist. Indymedia setzt ein aktives Software-Programm ein, das den Upload von verschiedenen Dateiformaten in einen Newswire ermöglicht. Es handelt sich also einerseits um eine streng determinierte technische Umgebung. Indymedia funktioniert mit spezifischen Codes und Server-Architekturen, die nur eine begrenzte Anzahl von Aktionen zulassen. Neben diesen technischen Protokollen wird der Content der Seiten durch klare ethische Prinzipien bestimmt, welche die redaktionellen Arbeiten, die durchgeführt werden oder auch nicht, regulieren und legitimieren sollen. Protokolle und Prinzipien sind notwendige Voraussetzungen für die Interaktion einer großen Zahl anonymer Personen an Orten, die weit von deren Alltagsumgebung entfernt sind.6 Doch die Erzeugung möglicher Welten kann sich nicht damit begnügen. Sie erfordert auch eine kulturelle Befreiungsstrategie, in der Medien in erster Linie etwas "Taktiles" sind, ein Prozess des Ausdrucks, der Menschen berührt und allen die Möglichkeit einer kreativen Rezeption und Transformation bietet. Dieser Ansatz findet sich etwa bei den Reclaim the Streets-Festen und den Pink Bloc-Kampagnen, zwei aktivistische Projekte, die ganze partizipative Umgebungen bzw. "konstruierte Situationen " herstellen. Worum es in diesen Umgebungen geht, ist die Entwicklung eines existenziellen Rahmens für kollektive Erfahrungen; Prem Chandavarkar spricht in diesem Zusammenhang von "bewohnbaren Metaphern".7 Nur solche Metaphern ermöglichen verteilte Interventionen.
Was dabei verstanden werden muss – die Medienstrategie globaler Kampagnen –, ist die enge Verflechtung von technischen Protokollen und kulturellen Horizonten. Schwärme bilden sich, wenn die ästhetischen und metaphorischen Dimensionen des radikalen gesellschaftlichen Protests auf der ganzen Welt mit elektronischer Kommunikation verstärkt werden. Eine transnationale aktivistische Bewegung ist eine Swarmachine.
Einen möglichen Zugang zu diesen neuen Formationen bietet die Arbeit der Soziologin Karin Knorr Cetina, die im Rahmen ihrer Untersuchung des Devisenhandels den Begriff der "komplexen globalen Mikrostrukturen" prägte. Darunter versteht sie geographisch ausgedehnte Interaktionen, die nicht den vielschichtigen Organisationen und Expertensystemen unterliegen, die modernen Industriestaaten für das Management von Ungewissheit dienen. So waren Devisenhandels-Netzwerke in der Lage, die asiatische Finanzkrise von 1997/98 auszulösen und damit die Weltwirtschaft neu zu organisieren. Die Finanzmärkte, so Knorr Cetina, seien "zu schnell und verändern sich zu rasch, um durch institutionelle Ordnungen erfasst zu werden." Und weiter: "Globale Systeme, die auf mikrostrukturellen Prinzipien beruhen, weisen keine institutionelle Komplexität auf, sondern vielmehr die Asymmetrien, die Unwägbarkeiten und das Spielerische komplexer (und verstreuter) Interaktionsmuster; eine Komplexität, welche John Urry zufolge aus einer Situation hervorgeht, in der Ordnung nicht das Ergebnis bereinigter sozialer Prozesse und daher immer mit Chaos verbunden ist. Konkret weisen diese Systeme eine Beobachtungs- und Zeitdynamik auf, die eine Grundlage für ihre Verbindungsformen, ihre auto-affektiven Prinzipien der Selbstmotivation, ihre Outsourcing-Mechanismen und ihre inhaltlichen Prinzipien sind, welche die Prinzipien und Mechanismen der modernen, komplexen Organisation ersetzen. " 8
Knorr Cetina unterstreicht die Bedeutung von Echtzeit- Koordination und der Schaffung gemeinsamer Horizonte. Sie zeigt, wie vernetzte ICTs es weit voneinander entfernten Teilnehmern ermöglichen, einander zu sehen und zu erkennen sowie gleichzeitig dieselben Ereignisse zu beobachten, zu kommentieren und damit Zusammenhalt zu erzeugen.9 Der Einsatz von Technik ist dabei opportunistisch und kann ausgegliedert werden. Worauf es ankommt, ist das System von Zielsetzungen und Überzeugungen, welches die Teilnehmer verbindet. Knorr Cetina interpretiert die herkömmliche Sicht von Netzwerken als Rohrsystem um, in dem Informationen verteilt werden, und insistiert auf ihrer visuellen Funktion: aus "Rohren" werden "Sichtgeräte". Der gemeinsame Horizont wird durch das Bild zusammen gehalten, welches die Notwendigkeit des Handelns innerhalb dieses Horizonts deutlich macht – insbesondere in Form dessen, was Barthes als punctum bezeichnete: das affektive Register, welches aus der allgemeinen, dumpfen Flachheit des Bildes herausspringt und uns berührt. Die Idee der "Auto- Affektion" schließlich leitet sich aus Maturanas und Varelas Vorstellung des lebenden Organismus als autopoetische Maschine her, welche in klassisch-zirkulärer Art als "Netzwerk von Produktionsprozessen" definiert wird, das "durch Interaktionen und Transformationen ständig das Netzwerk der Prozesse (Beziehungen) reproduziert, aus dem es hervorgegangen ist." 10
Für herkömmliche Theorien der sozialen Netzwerke bestand das dynamische Prinzip in mehr oder weniger zufälligen Anziehungskräften zwischen atomistischen Einheiten, welche nur durch die "schwachen Bindungen" der liberalen Gesellschaften der Gegenwart miteinander verknüpft waren. 11 Die Vorstellung von autopoetischen sozialen Gruppen dagegen führt eine vollkommen neue Art von Akteur ein. Um die Implikationen zu verstehen, muss man sehen, dass jede autopoetische Maschine oder "Mikrostruktur" einmalig ist und durch die Koordinaten und Horizonte, die es konfigurieren, bestimmt wird. Ein Beispiel sind die Open-Source-Software- Netzwerke. Hier gibt es einen gemeinsamen Horizont, der aus Texten und exemplarischen Projekten besteht: Die Erklärungen Richard Stallmans und das GNU-Projekt, Linus Toralds Start von Linux, Essays wie die "Hacker-Ethik", Projekte wie Creative Commons, sowie das Verhältnis all dessen zu älteren Idealen einer öffentlichen Wissenschaft, usw. Es gibt formale Prinzipien, vor allem die als "copyleft" bekannte General Public License, die rechtlich die Angabe des Urhebers erforderlich macht (und damit die Anerkennung der Bemühungen aller ermöglicht), aber auch die fortgesetzte Offenheit jedes neu entstehenden Codes (wodurch eine breite Kooperation und Innovation ermöglicht wird). Und schließlich gibt es konkrete Formen der zeitlichen Zusammenarbeit über das Internet: Sourceforge etwa, ein allgemeiner Versions-Tracker für sich ständig verzweigende Projekte, oder die Wiki-Foren, die es für jede freie Software-Anwendung gibt. All das versucht mit einem Minimum an institutioneller Komplexität auszukommen, und ist stattdessen voller Selbst-Motivation und Auto-Affektion zwischen den verstreuten Mitgliedern einer eng verknüpften, agilen und wirkungsvollen sozialen Gruppe.
Tendenzen zur Entstehung von globalen Mikrostrukturen haben sich seit Jahrzehnten im Umfeld der durch den Neoliberalismus geschwächten nationalen institutionellen Umgebungen herausgebildet. Zu einem Wendepunkt kam es jedoch im September 2001. Der Untertitel von Knorr Cetinas Artikel lautet The New Terrorist Societies und dehnt die Analyse der globalen finanziellen Mikrostrukturen auf Al Kaida aus. Wo in den Neunziger Jahren von allen Netzwerke gesehen wurden, dort steht heute die Bedrohung durch radikale Militante. Die Anti-Globalisierungsbewegung, die sich schon seit längerem mit dem Problem der Unterscheidung der eigenen mobilen Formation von den Eliten der globalen Finanzwelt herumgeschlagen hat, begann nach dem 11. September rasch zu zerfallen: überall wurden Anschuldigungen laut, welche die Protestbewegungen mit dem Terrorismus in Verbindung brachten. Nahezu vier Jahre später, am letzten Tag des G8-Gipfels von 2005 in Gleneagles, Schottland, überschattete die Explosion von Terrorbomben in London jede mögliche Botschaft, welche die Protestbewegung vermitteln hätte können. Al Kaida schien ein Paradebeispiel einer globalen aktivistischen Bewegung zu sein – und ein perfekter Vorwand, all diese Bewegungen zu vernichten.
Zwischen Anti-Globalisierungsbewegungen einerseits und den Finanzleuten bzw. den Terroristen andererseits lassen sich soziologische Parallelen ziehen. Doch das einzige, was diese weit voneinander entfernten Welten zusammenbringt, ist die Kraft der historischen Veränderung, die jeweils sehr unterschiedlich zum Ausdruck kommt und auf sehr unterschiedliche Ziele gerichtet ist. Knorr Cetina vertritt die Auffassung, dass die Veränderungen in der Welt der Gegenwart durch Mikroprozesse vorangetrieben werden, und von leichten, beweglichen Formationen umgesetzt werden, welche Innovationen auf globaler Ebene und ein Maß an Komplexität riskieren können, die herkömmliche Institutionen lähmen würden. Sie schreibt: "Die Textur einer globalen Welt wird durch mikrostrukturelle Muster artikuliert, die sich im Schatten nationaler und lokal institutioneller Muster herausbilden (von diesen jedoch befreit sind)." Die Reaktionen nationaler Institutionen auf den Terrorismus sind nun zu einem bedeutenden Problem für alle Bewegungen geworden, die nach fortschrittlicher und egalitärer sozialer Veränderung streben. Auch als die Schwarmtheorie zu einem starken Paradigma der militarisierten Sozialwissenschaften wurde, wurden auf dem ganzen Planeten Versuche gestartet, die gefährlich mobilen Beziehungsmuster zu stabilisieren, die von der neoliberalen Marktgesellschaft und ihren schwachen Bindungen ausgelöst worden waren. Doch die wesentlichen Trends sind widersprüchlich. Einerseits gibt es fortgesetzte Anstrengungen, die Regeln des Freihandels im Interesse der Großkonzerne durchzusetzen und damit das Projekt des liberalen Imperiums zu verwirklichen. Andererseits bestehen die gängigsten Reaktionen auf den Marktzwang in Rückgriffen auf übersteigerte Formen des Nationalismus, die oft mit tief sitzenden fundamentalistischen Orientierungen einhergehen, wie etwa in den USA selbst. Der Neokonservatismus in all seinen Ausformungen ist der "Rückstoß" der neoliberalen Ökonomie. In dieser Hinsicht hat Felix Guattaris Diskussion des Wechselspiels zwischen Ent- Territorialisierung und Re-Territorialisierung aus den späten Achtziger Jahren etwas Prophetisches. Guattari beschreibt die Lage wie folgt: "Wo die ent-territorialisierenden Revolutionen, die an die Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Kunst geknüpft sind, alles vor ihnen Liegende beseitigen, dort entsteht auch ein Drang nach subjektiver Re-Territorialisierung. Und dieser Antagonismus wird durch das enorme Wachstum der Kommunikations- und Computertechnik noch weiter verschärft, da diese ihre ent-territorialisierende Wirkung im Bereich menschlicher Fähigkeiten wie Gedächtnis, Wahrnehmung, Verständnis, Vorstellungskraft usw. entfalten. Damit wird eine bestimmte anthropologische Formel, ein bestimmtes, tradiertes Modell des Menschseins in seinem Innersten enteignet. Und ich glaube, dass Überantwortung der kollektiven Subjektivität an jene absurde Welle des Konservatismus, die wir gegenwärtig erleben, eine Folge der Unfähigkeit ist, eben dieser ungeheuren Mutation gerecht zu werden." 12
Wie kann man sich Alternativen zur Gewalt der kapitalistischen Ent-Territorialisierung, aber auch zur fundamentalistischen Re- Terrotorialisierung, die ihr folgt, vorstellen? Der Zwiespalt der Gegenwart besteht nicht nur in einer Opposition von Christenheit und Islam. Die Enteignung des menschlichen Potenzials ist ein Wesenzug des Projekts der Moderne. Seit dem 11. September haben die US-Geschäftswelt und ihre Verbündeten sowohl die abstrakte, hyper-individualisierende Dynamik der kapitalistischen Globalisierung vorangetrieben, als auch zutiefst archaische Erscheinungsformen der Macht neu erfunden (Guantanamo, Festung Europa, die Dichotomie zwischen majestätischem Souverän und dem nackten Leben). Guattari spricht von einem "Zwang" zur Ent-Territorialisierung und einem "Drang" nach Re-Territorialisierung. Dies bedeutet, dass wesentliche Dimensionen des menschlichen Lebens in gewaltsame, unterdrückerische Formen gepresst werden. Das Versprechen einer Welt ohne Grenzen wird damit zu etwas Abstoßendem, ja Mörderischem, während gleichzeitig die Krise, der Verfall und der Rückbau sozialer Institutionen eingeleitet werden, die damit immer weniger in der Lage sind, zu Gleichheit oder Respekt für Differenz beizutragen.
Nach all den Definitionen der Taktischen Medien müssen wir also noch herausfinden, ob man bewusst in der improvisierten, asymmetrischen Kraft global operierender Mikroprozesse teilnehmen und ihre relative Autonomie von institutionellen Normen als Möglichkeit nutzen kann, um auf eine positivere Re-Territorialisierung, ein dynamisches Gleichgewicht, eine lebensfähige Koexistenz mit technisch-wissenschaftlicher Entwicklung und dem Trend zu einer vereinheitlichten Weltgesellschaft hinzuwirken. Dies zu tun bedeutet, das Risiko der globalen Mikropolitik anzunehmen. Es bedeutet auch, mnemonische Bilder auf Grundlage latenter historischer Erfahrung und komplizierter Texturen des Alltagslebens zu zeichnen und sie in medialen Interventionen zu vermischen, um jene imaginären Fäden neu zu spinnen, die radikal-demokratischen Bewegungen eine starke und paradoxe Konsistenz verleihen: der Widerstand gegen willkürliche Autorität natürlich, aber auch Solidarität jenseits von Differenzen und der Wunsch einen Konsensus herzustellen, der nicht auf Tradition sondern auf Innovation beruht, auf experimenteller Wirklichkeit und kollektiver Selbstkritik. Die Fähigkeit, ein Ereignis hervorzubringen, ist es, die den jüngsten Bewegungen ihre überraschende Beweglichkeit im globalen Raum verliehen hat. Maurizio Lazzarato schreibt dazu: "Die Aktivistin ist nicht jemand, die zum Gehirn der Bewegung wird, die ihre Kraft in sich vereint, Entscheidungen vorgibt, und ihre Legitimation aus einer Fähigkeit bezieht, die Evolution der Macht zu lesen und zu interpretieren, sondern sie ist einfach jemand, die eine Diskontinuität in das Bestehende bringt. Sie führt eine Gabelung in den Fluss der Wörter, der Wünsche, der Bilder ein, um sie in den Dienst der Artikulationsmacht der Vielheit zu stellen, sie verknüpft singuläre Situationen miteinander ohne einen erhöhten oder totalisierenden Blickwinkel einzunehmen. Sie ist eine Experimentatorin." 13
Am Ende des Buches wird allerdings klar, dass es nicht einfach um eine Flucht in das Chaos geht. Es geht um die Artikulierung von menschlichen Bemühungen, welche gegen die todbringenden Kräfte der gegenwärtigen Gesellschaft Widerstand leisten oder sie sogar ersetzen können. Derzeit sind die Aussichten für jede Art von Basis-Intervention in stark polarisierten Ereignissträngen äußerst bescheiden. Wenn sich die Dinge allerdings massiv verschlechtern, oder umgekehrt das politisch-wirtschaftliche Pendel sich in eine vertrauensvollere Expansionsphase zurückbewegt, dann ist es wahrscheinlich, dass es bedeutende zweite Chancen für radikale Demokratiebewegungen geben wird – und neue Rollen für improvisierte globale Medien. Die Zukunft gehört jenen, welche den experimentellen Unterschied machen können.