Unlängst berichtete die BBC, dass 6.000 der ungefähr 30.000 afrikanischen Boat-People nicht an ihrem Ziel, den Kanarischen Inseln, angekommen waren.1 Sie sind auf dem Weg ertrunken oder werden vermisst. Diese Zahlen beziehen sich nur auf das Jahr 2006. Sie werden erst lebendig, wenn wir sie mit anderen Ziffern vergleichen. Die Anzahl der Vermissten ist fünfmal so hoch wie die Anzahl der Opfer im Israel/ Libanon-Konflikt im gleichen Jahr. Etwa doppelt so hoch wie die Zahl der Toten der so genannten zweiten Intifada. Man kann sich die Medienberichterstattung vorstellen, wenn diese Menschen während eines Erdbebens oder eines Terrorangriffs ums Leben gekommen wären. Zumindest einen Monat lang würden die Berichte darüber die Nachrichten beherrschen, mitsamt einer Flut von Sonderberichten und einer unaufhörlich sprechenden Armee von Risiko- und HilfsexpertInnen. Aber um das Schicksal der Boat-People gibt es nur ein unheimliches Schweigen. Wie kommt das? Diese Leute sind nicht nur wegen schadhaften Booten, starken Stürmen oder anderen Launen der Natur ums Leben gekommen. Ihre Todesursache ist die Angst Europas.
Angst ist Europas gemeinsamer Nenner: Sie ist ihre geheime Währung. Nach dem Scheitern der Ratifizierung einer gemeinsamen Verfassung teilen die europäischen BürgerInnen nur noch ihre Ängste. Terrorwarnungen, Einwanderungspanik, Jobangst, Viren, Verbrechen, globale Erwärmung, fast alles kann als Phobie konstruiert werden. Es gibt Angst vor zu viel oder zu wenig Veränderung, Angst vor der Welt, Angst vor sich selbst. Sogar die Unglücklichen, die weiterhin in den europäischen Meeren ertrinken, lösen tiefgreifende Ängste aus. Hingegen wäre es völlig verständlich, wenn sich die Boat-People vor Europa fürchten würden, da die Zahl der Todesopfer von rund 25 % in der Tat furchterregend ist.
Unglücklicherweise macht es keinen Sinn, auf die Irrationalität dieser Form von Angst hinzuweisen, da es genau um diese Irrationalität geht. Es gibt einen einfachen Grund für dieses Scheitern der Vernunft. Angst ist produktiv und, wenn man so sagen kann, attraktiv. Wir lieben sie und unterstützen sie, wo es geht. Wir stimmen in Scharen zu ihren Gunsten. Der Erfolg der Rechtsparteien und der so genannten populistischen Parteien überall in Europa ist eine Auswirkung einer schon lange bestehenden Sucht nach Angst. Wenn das Leben bedroht ist, impliziert das, dass man noch am Leben ist. Angst rinnt durch die Venen wie Adrenalin oder wie eine Droge. Das ist die zeitgenössische Form des Bewusstseins: Mind wide shut.
Es macht keinen Unterschied, dass viele der Bedrohungen imaginär sind. Die Angst selbst ist real. Realer als die Realität. Denn sie macht die Dinge erst wirklich. Nehmen wir die Mauer in Ceuta: Ein Denkmal der europäischen Angst. Ja, es gibt eine europäische Identität. Nein, es ist nicht der Humanismus, das Christentum oder ein anderes sublimes Ideal. Es ist die Angst.
So einfach ist das.
Angst hat viele Qualitäten, die anziehend sind. Sie ist intensiv, im Überfluss vorhanden, sie vervielfältigt sich, und im Unterschied zu Menschen reist sie frei und schnell. Der digitalen Information ähnlich kann sie nicht nur ohne Qualitätsverlust, sondern sogar mit wesentlichen Verbesserungen kopiert werden. Sie ist das Subjekt intensiven Genießens, ein paradoxes, verschleiertes Begehren. Angst fühlt sich real an – anders als die Realität.
Aber Angst ist noch mehr. Sie ist eine populäre Warenform der Affekte; sie ist ein Markenzeichen, angeeignet, vermarktet, vielleicht sogar lizenziert. Der Schauer der Rummelplätze, das gruselige Gefühl der Horrorfilme, die Spezialeffekte des Zitterns und Bebens werden von den Medienmaschinerien massenhaft produziert und mit vorgefertigten Realitäten glasiert. Paolo Virno hat uns daran erinnert, dass diese durchdringende und existentielle Angst mit dem Verlust traditioneller Gemeinschaftlichkeit und dem Entstehen der Menge verknüpft ist. Sie kann von gemeinsamen Ritualen oder deren modernem Gegenstück, einer öffentlichen Sphäre kommunikativer Rationalität, nicht im Zaum gehalten werden.2 Im Gegenteil: Angst selbst ist die Form der zeitgenössischen Öffentlichkeit. Sie konstituiert ein weitgehend globalisiertes Gemeinwesen, das im Takt der breaking news erzittert.
In einem interessanten Text hat Brian Massumi das auf Farben basierende US-Terrorwarnsystem als ein Instrument beschrieben, das die Affekte der amerikanischen Bevölkerung synchronisiert. Es gibt keinen Notwendigkeit mehr für Erklärungen – leuchte einfach eine Farbe in die Menge (irgendwas zwischen Rot und Gelb, d.h. keineswegs Grün) und moduliere ihre Stimmung.3 Auf diese Weise adressiert die Macht geradewegs die Sinne. Sie wird dadurch nicht nur ästhetisiert. Sie ist sinnlich geworden, sie ist in die Wahrnehmung als solche eingedrungen. Und jetzt stellen wir fest, dass Angst weit über einen individuellen Geisteszustand hinausgeht. Angst entsteht, wenn Politik als Ästhetik ausgeübt wird.
Hier kommt die Kunst ins Bild. Wenn die Politik der Angst sich als Ästhetik artikuliert, müsste es auch möglich sein, ihr etwas auf dieser Ebene entgegenzusetzen. Wenn Angst durch die Sinne wirkt, warum nicht über andere Sinnlichkeiten nachdenken? Wenn eine Anordnung von Warnfarben die Emotionen der Menge beeinflussen kann, warum dann keine anderen Farben wählen?
Angst erscheint als Kreuzungspunkt, an dem sich Politik und Kunst wieder begegnen – wenn auch nicht in der üblichen Form der Diskursivität. Zeitgenössische Politik scheint im Allgemeinen viel mehr in Form von Gefühlen zu wirken. Die monochromen Farben des Terrorwarnsystems sind nur ein Beispiel für die Adressierung der Sinne durch die Politik. Doch die Übernahme ästhetischer Strategien des Monochroms ist ein sehr viel weiter verbreitetes Phänomen. Man denke nur an die Geschichte der jüngsten Farbrevolutionen: Die Rosa Revolution in Georgien (2003), die Orange Revolution in der Ukraine (2004), die Grüne oder Zedernrevolution im Libanon (2005). Selbst die angebliche »Ankunft der Demokratie« im Irak nach den Wahlen 2005 wurde kurzzeitig die »Violette Revolution« genannt. Der Name kommt von der Farbe, mit der die Zeigefinger der WählerInnen gestempelt wurden, um illegale Mehrfachwahl zu verhindern. Die »blaue Revolution« war der Name für die Proteste der Frauen im Kuwait, um das Wahlrecht für die Parlamentswahlen 2007 zu erringen.4 In jedem Fall war die Verbindung mit einer besonderen Farbe ausreichend, um in der Öffentlichkeit Gefühle von Hoffnung oder Angst zu wecken – unabhängig von jeglichem politischen Gehalt. Farbe wurde dagegen zum Markenzeichen für einen besonderen politischen Affekt: Eine Politik des Monochromen. Eine Farbe, die zu einer direkten Handlung wird.
Worauf aber gründet sich diese Politik? Betrachten wir diesen besonderen Typ politischer Ästhetik genauer. Es ist klar, dass das Monochrome ein Genre mit einer langen Tradition in der Moderne ist. Was war die Funktion des Monochroms, als es zuerst in der Kunstwelt auftauchte? Gleich von Beginn an entsteht ein starker Widerspruch in der Interpretation des Monochroms. 1921 stellte Alexandr Rodchenko drei Monochrome gemeinsam aus – je eines in jeder der drei Grundfarben. Er glaubte, dass sein Werk den »Tod der Malerei« beweise. Im Gegensatz dazu wurde Kazimir Malevichs »Weißes Quadrat auf Weißem Grund« von 1918 vielmehr als eine Konzentration auf die Essenz der Kunst (auf »reines Gefühl«) verstanden. Das Monochrom konnte daher sowohl als das Ende der Kunst als auch als »reines Gefühl« interpretiert werden.
Es konnte als »Tod der Malerei« oder als völliger Neubeginn der Kunst interpretiert werden. Die Funktion politischer Monochrome ist sehr ähnlich. Beide sollen das Ende von Politik als solcher andeuten (Ende der Geschichte, Ankunft der liberalen Demokratie) und gleichzeitig eine Epoche des »reinen Gefühls«. Sie signalisieren zugleich den Tod der Politik und ihre radikale Erneuerung auf der Ebene der Wahrnehmung – indem sie sich auf »reine Gefühle« beziehen.
Doch das Monochrom verweist als Form auch auf eine andere Entwicklung. In der westlichen Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts manifestiert es eine Krise der Repräsentation, die letztlich die Zerstörung und die Überwindung der traditionellen Form des Tafelbilds zur Folge hat. KünstlerInnen haben Farbe, Form und letztlich die Objekte von der Beschränkung des Rahmens befreit. Der Rahmen wurde angegriffen, ausgestellt, zerstört und später einfach verlassen.
Weist das Auftauchen des politischen Monochroms fast ein Jahrhundert später nicht auf eine ähnliche »Repräsentationskrise« in der Politik hin? Es scheint, als ob wir allmählich die Rahmenbedingungen des demokratischen Nationalstaates eben so hinter uns lassen, wie den Rahmen des traditionellen Tafelbildes in der Malerei.
Warum aber fallen dann einige Ereignisse vollständig aus dem Rahmen, wie die 6000 Vermissten und Ertrunkenen? Was verursacht diese selektive Empfindungslosigkeit? Es scheint, als ob die Vermissten und Ertrunkenen in einer Leerstelle jenseits des Gefühls verloren gingen. Eine Zone totaler Unempfindlichkeit, die keine wie auch immer gearteten Gefühle auslöst, eine weiße Todeszone, ebenso ohne Farbe wie ohne Gefühl. Diese Zone konstituiert den blinden Fleck der Politik der Gefühle, einen Nullpunkt der Angst, der dennoch unseren Blick auf sie konstituiert. Diese Leerstelle ist der Grund für die Gestalt der Angst. Ihre unheimliche Stille ist der Soundtrack einer allgemeinen Krise der Repräsentation.