Wer hat Angst vor der Freiheit der Kunst?
Die vornehmste Aufgabe der Kulturpolitik, könnte man meinen, wäre es, Rahmenbedingungen für die Entwicklung eines kritischen Potentials kultureller Intelligenz zu schaffen. Weil tiefgehende ökonomische, aber auch soziokulturelle Veränderungen, verbunden mit globalen elektronischen Informations- und Kommunikationssystemen, eine Herausforderung an das Kulturerbe der Zukunft sind. Weil in Informationsgesellschaften der freie Austausch und die lebendige Erneuerung von Wissen und Kultur unter größtmöglicher Beteiligung sicherzustellen sind. Oder weil semiotische Demokratien die Quellen kulturellen Ausdrucks nicht einzelnen Gesellschaftssegmenten vorbehalten dürfen. Die Arbeit von unabhängigen Kulturschaffenden und ihr Beitrag zur Ausformung einer nachhaltigen und emanzipatorischen Kommunikations- Umgebung als lebendiger Prozess kultureller Praxis sollten daher von besonderer Bedeutung sein. Nur eine Vielfalt an heterogenen und experimentellen Ansätzen, die nicht ausschließlich kurzfristigen Profitinteressen dienen, kann dem kulturellen Potential von Wissensgesellschaften gerecht werden. Hier sind strukturelle Konzepte und eine lebendige Praxis im Umgang mit Technologien und der Aneignung neuer Medien gefordert, jenseits einer vom Markt geforderten Dekoration digitaler Warenwelten oder der Rolle des Corporate Style Konsulenten. Nein, nicht in Österreich. Eine Gemengelage post-modernisierter Ratlosigkeit mit bürgerlicher Orientierungslosigkeit in neoliberalen Marktwirtschaften erzielt eine nachhaltige Atmosphäre von Perspektivlosigkeit, die nicht nur jede demokratische Entwicklung erfolgreich behindert, sondern vor allem auch jedes Interesse an politischen Vorgängen selbst erstickt.
Spätestens im Jahr 2000 begann in Österreich wieder einmal ein Jahrzehnt kultureller Verblödung. Denkmäler für den arischen Abwehrkampf in Karantanien und Lederhosen- Liederbücher der Bundesregierung. Ein kultureller Rollback der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, verbunden mit der paranoiden Panik modernen Neoliberalismus. Das zeigte schon bald Wirkung. Als 2003 der Karlsplatz in Nikeplatz "umbenannt " werden sollte, fragte ein Vertreter einer Kunstinstitution, die "Freiheit der Kunst " auf ihrer Fassade trägt, "was die missbräuchliche Verwendung des Nike-Logos denn eigentlich mit Freiheit der Kunst zu tun hätte ". Das "verbotene " Projekt thematisierte sehr erfolgreich die Frage von Aneignung des öffentlichen und symbolischen Raums durch private Interessen und fand breite Diskurswirkung und Medienresonanz in ganz Europa und darüber hinaus. Das Büro des größten kommunalen Kulturpolitikers ließ ausrichten, dass es sich in der Wochenendruhe doch sehr gestört fühlt. Zumal der so genannte Kunstplatz, in Wirklichkeit ein Polizeiplatz mit Sondergesetzen, schon im Sommer davor von Kulturschaffenden mit einem "Mediencamp " besetzt wurde, war nun endgültig der Ofen aus. Freien Szenen wurde die Schneid abgekauft, als Bittsteller ruhig gestellt, wurden Interessensgruppen fragmentiert, Entsolidarisierung und Korruption gefördert und Freiräume als Brutstätten schrillen Widerspruchs ausgehungert. Dafür schenkte die Kulturpolitik den Wienern 2004 (noch) eine Oper. Dort, wo vor kurzem noch die Schlagerparade hoch subventionierter Kommerzmusicals abgespult wurde, gibt’s jetzt endlich wieder Nostalgiekultur pur. Und im Jahr 2005 hatte der Alt-Kanzler noch mal voll die Kuh raus gelassen und Wiener Barockgärten zu einem Almauftrieb von Kriegsopfern uminszeniert. Anlässlich von 50 Jubeljahren Befreiung vom Joch der Alliierten- "Besatzung " wurde zur nationalen Sinnstiftung wieder einmal Österreichs Identität als Opfer zelebriert. Das wichtigste Kulturereignis des Jahres 2006 war die späte Einsicht, dass Mozart noch toter ist als Elvis, und der kulturelle Höhepunkt des Jahres 2007 war scheinbar die Nicht-Ernennung eines Operndirektors vom neuen Kanzler. Ach ja, und das 5-Jahresjubiläum eines Kulturwirtschaftsareals in den ehemaligen Hofstallungen, das es sich zum Markenzeichen gemacht hat, jede kritische Vernunft aus ihren Mauern zu vertreiben. Und auch der Film über Artikel 7 im Staatsvertrag lief nicht im Fernsehen.
Bilder einer verrotteten Provinz, die sich vornehmlich auf Phantasmen einer angeblich volkstümlichen Kultur und einer vermeintlichen Hochkultur stützt. Kultur wird zum Gefangenenlager überholter Ideologien und schlecht verdauter Ideen von Kreativwirtschaft. Eine zunehmende Informatisierung der Gesellschaft und Ökonomie bedeutet nicht zuletzt auch eine ansteigende Kulturalisierung der Politik. Die Konstruktion des kulturellen Gedächtnisses zur Herstellung einer symbolischen Ordnung, die Identifikation mit einem impliziten Wertesystem, hat eine lange Tradition. Während bürgerliche und rechtsnationale Parteien wenigstens die Überlieferungen der Hausmusik und des völkischen Liederabends pflegen können, sind links davon die "entwurzelten " Parteien restlos überfordert. Zweifellos ist autoritär-konservatives politisches Agieren mit der Anwendung des Affektpotentials und der Vorstellungskraft im sozialen Feld weitaus vertrauter als die meisten emanzipatorischen Strömungen. Rechtsgerichtete Ideologien sind darauf angelegt, Massen affektiv zu binden. Sie können mit einer freien kulturellen Praxis, die sich dem Diktat der Formung des Volkskörpers durch die Imagination nicht unterwerfen will, nichts anfangen. Mediatisierte Affektsteuerung ist gleichzeitig ein Schlüssel scheinbar ideologiefreier Hegemonie durch die Monopolisierung der Flüsse und Kanäle von Bildern und Sprache. Es ist daher zunehmend notwendig eine Analyse zeitgenössischer Herrschaftsformen als semiotischen Fluss kultureller Handlungen vorzunehmen, die Aufgaben der Kritik neu zu verorten und neue Möglichkeiten der Transformation und Einflussnahme wahrzunehmen. Die Dringlichkeit einer offenen Debatte über die Bedeutung semiotischer Demokratie zeigt sich auch am Fehlen von Mechanismen, um semiotische Repression in der Wissensgesellschaft einzuschränken und damit auch eine Grundlage für freie Künste zu schaffen.
Der Schwerpunkt auf Oper, Operette und Theater ist hierzulande nicht nur eine tourismuspolitische Investition mit Referenz an Sozialisierungs- und Verdauungsrituale gehobener Schichten, sondern auch Instrument der kulturellen Pazifisierung Österreichs. Und wenn reproduzierende Künste das Distinktionsbedürfnis der Klatschspaltengesellschaft und ihrer Satellitensysteme bedienen, fällt doch immer auch ein wenig billiger Glanz auf die politische Klasse. Es dominiert ein Genre, das mit dem etwas unscharfen Begriff der "Klassik " umrissen wird. Wenn auf der Suche nach Information im Radio Koloratursopran perlende Partituren auf höchstem Niveau und ausdrucksstarkes Goldkehlchengedudel aus dem Lautsprecher quellen, treibt der akustische Schmerz zur Selbstreflexion und Erinnerung an innere gesellschaftliche Widersprüche. Ist dies der Preis der "Kultur ", aus dem sich der Dünkel selbsternannter bürgerlicher Eliten nährt?
Wenn dieser Klang- und Kulturraum auch in keiner Weise den Lebensbedingungen einer emanzipatorischen und demokratischen Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts entspricht, so warnte schon Plato in "Der Staat ", dass die Formen der Musik niemals verändert werden können, ohne die grundlegendsten politischen und sozialen Konventionen zu erschüttern. Als Musik noch direkt mit der Autorität des Monarchen verbunden war, lässt Moliere in "Der Bürger als Edelmann " schon im ersten Akt den Kappellmeister verkünden: "Ohne Musik kann kein Staat überleben ". Und Jaques Atali, schreibt in seiner Arbeit über die "Politische Ökonomie der Musik ": "Schall ist eine Waffe, und Musik in erster Linie die Formung, Domestizierung und Ritualisierung dieser Waffe als Simulakrum des rituellen Mordes ". Schallwellen sind tatsächlich eine immaterielle Waffe, die bis zur Todesfolge eingesetzt werden kann. Zuletzt wurde in den Medien berichtet, wie solche Schallwaffen gegen Piratenüberfälle auf Kreuzschiffen am Horn von Afrika angewendet wurden. Musik ist auch Teil des Folterprogramms in den Lagern von Guantanamo. Vor allem ist Musik auch politisch eine Frage von Repräsentation, in der Begriffe wie "Schönheit " irreführend sind. Was als Harmonie empfunden wird, ist weitgehend auch eine ideologische Entscheidung. In der psycho-politischen Musikgeschichte des Abendlandes gab es heftige Kämpfe, welche Akkorde erlaubt waren bzw. als Dissonanz erlebt wurden. Die Auflösung von Differenz und tonaler Hierarchien wurde als blasphemischer Misston empfunden. Musik ist Abbild ideologischer Theorien und Ausdruck menschlicher Sentiments. Die Tonalität der so genannten klassischen Musik ist der Fiktion der Harmonie in einem hierarchischen Universum verpflichtet. Die klassische Musik Europas, des Kaisers neue Kleider von damals, ein politischer Mythos. In der späten Klassik reizt der süßliche Pathos eines neureichen Bürgertums, das seinen Einfluss in die höfische Inszenierung von Kultur und Musik schon früh reklamierte, zum Erbrechen. Nur gehobene Stände, so heißt es, haben Zugang zur Kunst der Hochkultur. Klassische Musik funktioniert wie elektrischer Kuhdraht gegen den Pöbel. Kunst als letzter Zufluchtsort des westlich-bourgeoisen Individuums schafft Freiräume für selbsternannte Eliten.
Das so genannte "Information Peacekeeping ", als militärische Disziplin psychologischer Operationen, ist weitgehend die Kontrolle der psycho-kulturellen Koordinaten durch die Wirklichkeit bildende Kraft der Definition. Im Kampf um die Definitionsmacht von Kultur schlägt das Pendel immer weiter nach rechts aus. Die hierarchisch formellen Sektoren und die ökonomisierten Strukturen werden bevorzugt, dagegen werden freie Initiativen und alles, was Kritik und Dissens beinhaltet, marginalisiert. Diese kreativwirtschaftliche Privatisierung der öffentlichen Sphäre in einer von privaten Wirtschaftsinteressen angetriebenen Kulturproduktion steht allerdings im Gegensatz zu einer Kultur der Auseinandersetzung mit sozialer Gerechtigkeit. Zusätzlich wirft die Legende der Creative Industries, die schönen Künste aus der Kälte in die Produktivkräfte der Wirtschaft zu holen und damit Kunst und Kultur "abzusichern ", grundlegende Fragen in Bezug auf Dissens und Unabhängigkeit auf. Die Ideologie einer kapitalgesteuerten Kultur der Kreativwirtschaft steht durch die Verschiebung von Prozessen in den Bereich von Ästhetik und Geschmack im Widerspruch zur Freiheit der Kunst und einer Kultur der Selbstbestimmung. Es entspricht aber scheinbar durchaus dem Selbstverständnis und dem Identifikationsschema von kleinen Selbstdarstellern. Reaktionäre Ideologien betonen die einzigartige Individualität und mystifizieren kulturelles Schaffen. Die sakrale Aura und mythische Einzigartigkeit des Kunstobjekts sind eng verbunden mit dem Kult der Schönheit in einer bürgerlichen Weltordnung. In einem kulturökonomischen System der Marktentwicklung vermeintlicher Authentizität wird das Hauptaugenmerk auf bedeutungslose "Innovationen " und "individuelle " Persönlichkeiten gelenkt. Die Kulturindustrie ist durch ihre Marktlogik daran interessiert, Persönlichkeiten in den Vordergrund zu stellen, dem Produzenten einen höheren Stellenwert und dem Konsumenten eine regressive Rolle zuzuweisen. Aber jenseits der Dichotomie von Produzenten/Konsumenten liegt ein dynamisches psychosoziales Feld, das die wechselseitige Durchdringung dieser Kluft ermöglicht.
Obwohl die nachhaltigen Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen durch den technologischen Wandel in ihrer Tragweite vielfach noch nicht erkannt werden, entwickelt sich schon längst eine kritische und differenzierte kulturelle Produktion, die sich als Teil einer digital vernetzten Informationsumgebung begreift. Die künstlerische Arbeit erfährt dabei im Zusammenhang mit neuen kollaborativen Arbeitsmethoden, digitaler Reproduktion und einer Rekonfiguration der Autorenrolle tief greifende Veränderungen in Richtung prozesshafter Arbeitsweisen anstatt einer Fetischisierung von Artefakten. Kulturschaffende, die sich mit einer notwendigen Neubestimmung ihrer Rolle und der des Autors auseinandersetzen, definieren sich vielfach als Kollektive und offene Identitäten, nutzen Pseudonyme und fiktive oder multiple Identitäten. Sie operieren aber nicht nur in einem spezifischen Kunstkontext. Kollektive Phantome wie Luther Blisset sind als multiple Identitäten zu einem Phänomen vieler Länder Europas geworden. Zunehmend scheint es für die künstlerische Praxis erforderlich, hinter das Werk zurückzutreten oder gänzlich zu verschwinden. Dieser Logik folgend, entmaterialisiert sich auch das Kunstwerk selbst, hin zu einer prozesshaften Einflussnahme.
Kulturelles Schaffen basiert aber auf einer Vielfalt von Traditionen, die sich über Jahrtausende ausgebildet haben und auf Vektoren kultureller Entwicklung, die sich jeder Autorschaft widersetzen. Die hyperkontextuelle künstlerische Leistung ist nicht einfach Einwegkommunikation, die starr interpretiert wird, sondern ist ein Raum der Interaktion, wo Bedeutung im Zusammenspiel des Produzenten und des Publikums entsteht. Kunst als Agent der Veränderung entwikkelt Landkarten der Wirklichkeit und damit auch gleichzeitig eine Kritik und Analyse von Repräsentationssystemen. Diese Arbeit steht im Zeitalter der informatisierten Gesellschaft notwendigerweise in Zusammenhang mit den neuesten Möglichkeiten der vernetzten Informationsprozessierung und Komplexitätsreduktion in mehrdimensionalen digitalen Datenräumen. Sie benötigt ein Umfeld von Strukturen aktiver Vermittlung und horizontaler Forschung abseits der ausgetretenen Pfade des etablierten Wissenschafts- und Bildungsbetriebs. In medialen Desinformationsgesellschaften ist die Artikulation einer öffentlichen Meinung weitgehend verschwunden. Sie wird durch Öffentlichkeitsarbeit von jenen ersetzt, die dafür bezahlen. Öffentlichkeit ist zur Ware geworden, die in neo-feudalen Medienstrukturen gehandelt werden. Die Privatisierung menschlichen Wissens und die Durchsetzung rigider Copyright-Regime schreiten weiter voran. Gefordert sind die Entstehung einer neuen Sphäre des öffentlichen Raums in den digitalen Netzen und die damit verbundene Entwicklung öffentlicher Inhalte und Möglichkeiten aktiver kultureller Partizipation. Unabhängige kulturelle Intelligenz bildet durch Analyse und Bewertung soziokultureller und techno-politischer Trends ein Gegengewicht zu PR, Spin, neo-liberalen Missionaren und der Ökonomisierung des Lebens. In der Desinformationswelt, die mit existentieller Propaganda erfüllt ist, wird der Kunstschaffende zum Cultural Intelligence Agent.
Der Künstler als Informant steht aber im Widerspruch zum Markt kultureller Repräsentation als Habitat von Abstaubern eines Skulpturgartens fixer Ideen. Dieser stratifizierte Marktplatz indifferenter Tendenzen einer Kunst der Fügsamkeit in der Replikation vorauseilenden Gehorsams pendelt zwischen Pathos, Bildungsbluff und lustfreier Gehirnunzucht. Die Angst vor Veränderung drückt sich auch in der Ablehnung freier kultureller Produktion und ihrer Grundlagen aus. Um Charles Fort abzuwandeln: "Art is a mutilated octopus. If its tentacles were not clipped to stumps, it would feel its way into disturbing contacts. " Auch wenn Utopien momentan keine Konjunktur haben, und Stagnation inflationär geworden ist, noch ist das nicht das Ende der Geschichte ...