Um ein gemeinsames Element über den drei Dimensionen des städtischen Lebens (Arbeit, Wohnraum, öffentliche Versammlungsorte) zu schaffen, drängten Begriffe wie Verkehr und Kommunikation in die allgemeingültige urbanistische Begrifflichkeit von Bewegung. Mit der Explosion der Elektronik und nach der Umsetzung der Science-Fiction von gestern, leben wir nun in Szenarien der virtuellen Stadt, der Online-Stadt, der Stadt der Bits, der Cyberstadt und anderer Metaphern der Entkörperlichung. Aber die reale Funktion der Städte ist noch immer die Organisation des angemessenen Zusammenlebens in Zentren, Nicht-Zentren und außerhalb gelegenen Gebieten, als Akkumulation topographischer Mächte (Fabriken und Büros, Wohnungen und Häuser, Stadien, Theater, Plätze, Straßen und öffentliche Gebäude).
Eine bedeutende Anzahl utopischer Architekten wollte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts1 grundlegend neue Modelle für die Organisation des städtischen Raumes finden. Viele von ihnen experimentierten auf der Suche nach einer Alternative zu dem Versagen des zentralisierten Rationalismus im alten Europa und zum widerlichen faschistischen Holismus der Kontrolle. Diese ausgedehnte Bewegung war in den fünfziger Jahren unter anderem auch eine Reaktion auf die Rekonstruktionmodelle der Nachkriegszeit, die unbefriedigend2 erschienen. Die Avantgardebewegung der Situationistischen Internationale, 1957 von Künstlern wie Guy Debord, Asger Jorn, Constant und anderen gegründet, schlug vor, Städte mit neuen Methoden zu studieren – mit Psychogeographie und unitärem Urbanismus.
Unter Psychogeographie versteht man das »Studium der exakten Effekte des geographischen Settings, bewusst gehandhabt oder nicht, die sich direkt auf Stimmung und Verhalten des Individuums auswirken«. Unitärer Urbanismus ist »die Theorie des kombinierten Gebrauches von Künsten und Methoden als Mittel, die zum Aufbau eines vereinheitlichten Milieus in dynamischer Relation mit experimenteller Verhaltensforschung beitragen«.3 »Der plötzliche Wandel des Ambientes in einer Straße innerhalb weniger Meter; die offensichtliche Teilung einer Stadt in Zonen eindeutiger psychischer Atmosphären; der Weg des geringsten Widerstands, den man automatisch in ziellosen Spaziergängen verfolgt (und der keine Beziehung zur körperlichen Form des Bodens hat); der ansprechende oder abstoßende Charakter bestimmter Plätze – diese Phänomene scheinen alle vernachlässigt zu werden … Menschen sind sich darüber bewusst, dass manche Nachbarschaften düster und andere freundlich sind. Aber normalerweise nehmen sie einfach an, dass elegante Straßen ein Gefühl der Befriedigung erzeugen und dass arme Straßen deprimierend sind. Damit geben sie sich zufrieden.«4
In den darauffolgenden Sechzigerjahren wurden die utopischen und politischen Dimensionen des Urbanismus auch ausführlich analysiert, nicht nur durch die Situationisten, sondern auch durch marxistische Forscher wie Henri Lefebvre oder später durch Manuel Castells.5 Während die Entwicklung der »New Towns« in Amerika und Europa voranschritt und in den USA zu historischen Vorfällen wie den Watts-Unruhen führte, wurde Urbanismus von ihnen als eine Ideologie interpretiert, die in der entstehenden Informationsstadt »Stille organisieren« soll. Diese Analyse veranlasste die Situationistische Internationale dazu, die utopische Großarchitektur aufzugeben und sich auf die Semiotik und die Verteilung von Information in jenen Bereichen zu konzentrieren, die sie als »Gesellschaft des Spektakels« bezeichnete.6
Bald jedoch wurden Psychogeographie, Bürgerbeteiligung und Partizipationsprozesse von Think Tanks für das Raummanagement vereinnahmt. Wenn es ihre Geschäftsziele rechtfertigt, können Unternehmen heutzutage leicht Guy Debord zitieren. Raummanagement wird in Zeitlichkeit und in einen permanenten Prozess der Semantisierung eingeführt. Was durch die linke Romantik der Fünfziger- und Sechzigerjahre als »intensives Leben« beschrieben wurde, wird nun ins Lifestylemanagement integriert. Der Traum für die Cyberbürger ist es, ihrer physischen Verortung und der Situation der Einbettung zu entgehen. »Das Entbetten« und die Dezentralisierung sind die romantischen Entfesselungsträume des individualisierten Stadtlebens der Gegenwart. Eine Illusion der Freiheit, die mit sozialer Begrenzung in der körperlichen Stadt Hand in Hand geht.
Die Art und Weise wie Städte heutzutage angelegt werden – breite Straßen, Einkaufszentren, Sackgassen, strikt getrennte Funktionen (Industrie hier, Büros dort, Wohnhäuser in sicherer Entfernung) –, wird durch Regeln und Regulierungen vorgegeben. Wenn man über einen sich ausbreitenden Vorort blickt, sieht man tatsächlich einen Ausdruck des freien Markts, verbunden mit den Folgen der Deals, die von Lokalpolitikern und Immobilienmaklern ausgehandelt wurden. Diese Gesetze der Zonierung sind planlos und voller Fehler, zumeist um Immobilienunternehmern und Politikern zu genügen, und schaffen allzu oft langweilige, tote Lebensbedingungen. Gesetze und Regulierungen, die der Allgemeinheit dienen, würden hingegen Nachbarschaften zur Folge haben, die eher den Menschen entsprechen.
Regierungen und lokale Verwaltungen haben immer auch zu den großen »Nutznießern« von Architekturaufträgen gezählt. In diesem Bereich tut der moderne Staat, sei es als barmherziger Gönner oder direkter Bauherr, nichts anderes, als dass er die Jahrhunderte alte Tradition von öffentlichen Arbeiten fortsetzt. Seit den 1960er und 1970er Jahren sind Organisationen, die öffentlich-rechtlich arbeiten, eifrige Klienten intellektueller Dienstleistungen geworden, die an externe Lieferanten in Auftrag gegeben werden – Dienstleistungen, die Studien mit einbeziehen, vertraglich vereinbarte Forschung oder die Entwicklung von Computerprogrammen. Auf diese Weise sehen wir eine steigende Komplexität auf den Fließbändern der Autorenschaft und Dienstleistungsbereitstellung, bei gleichzeitig allgemeinem Auslagern, einem zunehmend hohen Prozentsatz von »importierten« Bestandteilen in einzelnen Produkten (am häufigsten durch die »cut-and-paste«-Funktion der Softwaretools) sowie der Verbreitung von Produktionsformen unter gleichzeitiger Teilnahme vieler Autoren und Berufe, die früher auf das audiovisuelle Feld beschränkt waren.7 Die Frage der Software-Patente gewinnt folglich auch im Bereich des öffentlichen Bauwesens zunehmend an Bedeutung. Während in bestimmten Ländern Computerprogramme als »Kunstwerke« unter der Definition künstlerischen und literarischen geistigen Eigentums (ALIP) behandelt werden, gibt es einen starken Druck, sie einfach als industrielles Eigentum zu betrachten. Das hätte zur Folge, eine mögliche industrielle Anwendung oder einen tatsächlichen Gebrauch nachweisen zu müssen. So taucht eine Defacto-Verbindung zwischen Kunstarchitekten mit Utopien (deren Werke unter ALIP stehen können, während reine Bauarchitektur häufig unter Industrial Property fällt) und künstlerischen Programmierern auf – und wenn letztere die künstlerische und literarische Möglichkeit verlieren, verlieren sich auch die Chance, offene Systeme zu entwickeln.8
Elektronik beeinflusst zunehmend den gegenwärtigen Urbanismus. Sobald ein Ansteigen der Austauschgeschwindigkeit zu verzeichnen ist, steigt auch der Druck, in den Städten des Welthandels mehr Profit zu erwirtschaften. Was als »elektronischer Urbanismus« bezeichnet wird, ist nur ein Beschleunigungsschub, gleichsam der sich ausbreitende Schaum von Knotenpunkten und Leitungen in den telematischen Netzwerken miteinander verbundener Menschen. Aber am wichtigsten bleibt für Staatenplaner die Fähigkeit, Zirkulation zu überwachen und ihr im physischen Raum Einhalt zu gebieten. Die Zonierung der physischen Landschaft hat sich zu einem Werkzeug der Steuerung entwickelt, um gegnerische Kräfte und ihren potentiellen Ungehorsam zu kontrollieren. In modernen Städten, die mehr und mehr in »Exportzonen«, spezielle »Sicherheitszonen« und »Sperrgebiete« zersplittert werden, wird es mittlerweile fast unmöglich, einen oppositionellen Angriff zu organisieren. Und obwohl Zonierung sehr wohl auf kämpferische Ablehnung stoßen kann, wird sie dennoch von den Bürgern zumeist gutgeheißen – vor allem im Namen der eigenen persönlichen Sicherheit.
Die Kontrolle über die physische Landschaft trachtet nach Stärke, kann aber in ihren Effekten auf die Zirkulationsmuster des Alltags noch immer erhebliche Schwächen aufweisen. Nur unter einem totalitären Regime ist eine volle Kontrolle über Bewegungen von Individuen vorstellbar. Auf einer globalen Ebene treten unter der Spannung geo-ökonomischer Konflikte Schwachstellen an den Tensegrity-Knotenpunkten auf.
Wenn auch die situationistische Utopie irgendwie untergegangen ist, so ist doch die Psycho-Geschichte von Orten nach wie vor ein Werkzeugsatz für soziale Bewegungen. Manche Orte haben eben eine starke Geschichte. In Paris können Demonstrationen leicht zu Konfrontationen mit der Polizei führen, wenn sie Viertel wie das Quartier Latin, Bastille oder Charonne passieren, im Gegensatz zu Vierteln wie Invalides oder Montparnasse. Vergangene Geschehnisse haben auf Menschen, die zu einer unkontrollierbaren Masse werden können, einen psychologischen Einfluss. Gewerkschaftsverbände integrieren dieses Wissen in ihre Taktiken, wenn sie Demonstrationen organisieren. Geh hierhin, wenn du den Konflikt aufheizen willst, oder dorthin, wenn du ihn abkühlen und verhandeln willst.
Ein weiteres wirkungsvolles und altbekanntes Modell, um Menschen zusammenzubringen, ist die Wieder-Inbesitznahme von Architektur; nicht die Entwicklung utopischer Modelle, sondern die Rückgewinnung alter Gebäude und Konstruktionen im Sinne einer demokratischen Notwendigkeit. Auch dies ist seit der improvisierten Versammlung von Republikanern im königlichen Gebäude Jeu de Paume wohl bekannt, jenem Platz für das Ballspiel mit der Hand, nur wenige Tage vor der Französischen Revolution. Wenn Menschen keine anderen Möglichkeiten haben, und sich Menschen versammeln können, sind Besetzungen und zeitlich begrenzte Okkupationen heutzutage noch immer eine wirksame Taktik, auch wenn das »Blockieren« eines öffentlichen Gebäudes heute in den Massenmedien als »anti-demokratisch« dargestellt wird. Aber irgendwie war dies in den 1990ern viel verbreiteter – vor dem Aufstieg des World Wide Web und der Mobiltelefone. In zehn Jahren wurde die ganze Stadt von Informationstechnologien erobert: Überwachungskameras, Biometrik, drahtlosen Netzwerken, Mobiltelefonen, automatischen Türen, Identifikationskarten oder -nummern für Transport und Gebäude, etc. War es den sozialen Bewegungen vor zehn, fünfzehn Jahren noch möglich, Bahnhöfe zu besetzen, so gilt das heute angesichts des Terrorismus gegen Massen als schwierig. Das Paradoxon besteht darin, dass Menschen mehr denn je Werkzeuge zur Kommunikation haben, aber zugleich auch in einem physischen Raum leben, der noch nie so kontrolliert war wie heute. Ist es möglich, dass gerade das Informationsjahrzehnt auch das Jahrzehnt des »Massenterrorismus« hervor gebracht hat? Die noch nie dagewesene Tragweite der Ereignisse des 11. September verleiht auch dem Feind eine gewisse Größe, aber Statistiken der Vereinten Nationen zeigen – obwohl es keine gültige Definition von »Terror« gibt –, dass terroristische Akte weltweit seit zehn Jahren im Abnehmen sind und nicht im Zunehmen, und das trotz aller Einmischung durch Medien und Politik (die IRA beschoss Downing Street Nr. 10 mit Raketen zuletzt in den 1980er Jahren). Wahrscheinlicher ist dagegen, dass eher eine Ökonomie der Angst im Ansteigen ist: Mediatisierte Angst, Medienterrorismus.
Michel Foucault hatte mit dem Konzept der Biopolitik eine Analyse der liberalen Herrschaft der vergangenen Jahrzehnte vorgeschlagen, eine Politik der Verwaltung von Bevölkerungen, die als lebende Ressourcen angesehen wurden. Dieses politische Modell fand seinen Höhepunkt in der Sicherheitspolitik der Gesellschaften von heute. Aber dieses Modell modernisiert sich durch die Allianz mit dem nachhaltigen Kapitalismus des ökologischen Zeitalters. Die Allianz aus Sicherheit und dem Gebot der nachhaltigen Entwicklung, so wie sie von den konservativen Kräften geplant wurde, definiert einen Mechanismus und bestimmt schon im Voraus unsere Möglichkeiten zu handeln und uns zu bewegen. Für die Sicherheit aller, für das gute Funktionieren des Systems werden digitale Sperren eingerichtet. Die Verpflichtung, das Gesetz einzuhalten wird somit zu einer Technik, und es gilt als schweres Vergehen unseres Zeitalters, die kybernetischen Flüsse einer hochgradig kontrollierten Gesellschaft zu blockieren oder zu beeinträchtigen.9 Es ist somit von Bedeutung, dass die »anarcho-autonomen« Saboteure, die im Norden Frankreichs die elektrischen Leitungen des Hochgeschwindigkeitszuges TGV kappten, um die Mittelschicht für einen Tag an ihrer Fahrt zur Arbeit in Paris zu hindern, als Terroristen dargestellt werden. Das trifft auch auf das Gesetz zur öffentlichen Grundversorgung im Streikfall zu (»Service minimum«), mit dem man in Frankreich der alten Tradition des Generalstreiks als Protestmittel des vergangenen Jahrhunderts entgegen treten wollte.
In ihrem sicherheitsbezogenen Umschwenken erweitert sich die Ökopolitik, indem sie die Biopolitik integriert. Die traditionellen Vorgehensweisen und Praxen des politischen Widerstands werden als rückständig dargestellt. Die Entdeckung einer politischen Dissidenz im urbanen Kontext lässt sich vielleicht durch eine Reaktivierung des Unitären Urbanismus der Situationisten erreichen. Es wird daher unumgänglich sein, Formen des Wohnens und der städtischen Bewegung zu erfinden, welche die Mechanismen der Sicherheitspolitik demobilisieren. Architekturkollektive wie Exyzt10 und hackitectura11 sowie die Programmierer des künstlerischen Kollektivs Apo 3312 haben bereits Erfahrungen gesammelt. Sie setzen die Definition »der kombinierten Nutzung von Kunst und Technik zur Milieubildung in Verbindung mit Verhaltensexperimenten« in die Praxis um. Durch das Ent-Sperren der Cyber-Sperren der städtischen Sicherheitspsychose, durch die Wiederentdeckung des Lebens und der freien Bewegung.