Ein unruhiger Flug zum Spektakel des Spektakels: der Performance von Politik und Kunst in Österreich
Frankfurt, Flughafentransit. Als ich das orgiastische Titelbild der "Bild"-Zeitung sehe, denke ich an "Österreich". Der ältere Herr mit Brille und brauner Hose, der mir gegenüber in der Wartekoje von Gate A 24 sitzt, vermittelt den Eindruck eines netten Opas. Er spannt das üppige Großformat mit beiden Händen zu voller Breite. "Liebesschwüre an einen Verbrecher", keucht die Balken-Headline, und eine entblößte Blondine zwinkert von der Seite eins. Als der Mann sein Papiermonster ein wenig anhebt, lugt nur noch sein schütterer Haarschopf über den oberen Rand. Unten ragen Hosenbeine und Schuhe hervor. So wird dieser wackere Leser zum Bild-Träger.
Das ist keine Inszenierung, sondern eine Alltagsszene. Indem ich sie im Moment als Beobachter frame und jetzt im Schreiben auf der Grundlage des so entstehenden Dispositivs zu einem Kunstwerk erkläre, das sich so ähnlich Tag für Tag tausendfach ereignet, übersetze, transformiere ich die Szene zu einer Realperformance. Mehr muß ich nicht tun. Durch den so in diesem Text durchgeführten Akt hebe ich mehrere Schranken auf: drehe die Diskursterritorien "Kreation" und "Perzeption" um, beende die Initiativhegemonie der sich als Künstler deklarierenden Autorschaft und führe die Aktion des Schaffens potentiell auf die Seite des Publikums. Ich operiere in dieser Wendung mit Barthes’ Bestecken am Kunst-Körper und mache ihn dadurch allgemein anwendbarer, also demokratischer.
Später im Flugzeug erinnere ich mich an Reinhard Meys Hit: "Über den Wolken muß die Freiheit wohl grenzenlos sein" von 1974. Bilder erscheinen: Wolken und Rauchwolken. Und dazu der Satz Karlheinz Stockhausens von 2001: "Das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos" (Peled, 2007). Das genügt. Nikolai G. Tschernischewsky ("Was tun?", 1863 – gut studiert von Lenin) schrieb seine Magisterdissertation zum Thema: "Das ästhetische Verhältnis der Kunst zur Wirklichkeit". (Plechanow, S. 28) Darin meint er, ganz materialistisch und wie als Kommentar zu Stockhausen: "Erhaben ist für den Menschen das, was weit größer ist, als die Gegenstände, oder weit mächtiger ist, als die Erscheinungen, mit denen er es vergleicht." Und: "Die Wirklichkeit ist nicht nur lebendiger, sondern auch vollkommener als die Phantasie." (ibid., S. 50) Was also tun, wenn Performance(Gesellschaft) zur Performance(Kunst) wird, durch einen Bruch, eine Verzerrung im kulturellen Gefüge?
Sinkflug. Der Traum der Moderne bestand darin, das Größte, das Ganze, das Genie zu imaginieren. Die große Illusion der Moderne war der Heroismus des Kampfes und all die damit verbundenen Stereotypen. Ich kenne keine Flugangst. Auch nach 9/11 nicht. Ein Titel wie "Kampfzonen in Kunst und Medien" verhält sich listig modernistisch, der Begriff "Kampf" entsprechend provokant reaktionär. Als Versatz-Signifikant für ein vermeintliches Handeln mit aus dem Abfall des Historischen gekramten Mitteln enthält er, auf die Gegenwart projiziert, Bruchstücke von Kitsch und Tragödie. Der Kitsch ergibt sich aus der Kampfrhetorik, die dieser Terminus aus der Sprache filtert und foltert. Die Tragödie ereignet sich aus der Reaktion (des Kämpfens) auf die Reaktion (des Bekämpften), die wieder eine Reaktion erzeugt – und so fort. In jede Kampfzone sind also zumindest zwei reaktionäre Parteien verwickelt, die stets Verlierer sein müssen. Der Angegriffene verliert seine Sicherheit. Und ein aufständischer Kämpfer bringt den Verlust bereits mit sich. Wenn er glaubt, nichts zu verlieren zu haben, nimmt er eine andere Position ein als dann, wenn er Angst hat, etwas zu verlieren. Stets aber gilt: Alle Beteiligten glauben, gewinnen zu können.
Wasserflaschen ins Flugzeug mitzunehmen ist verboten. Ich fliege oft, und das seit 30 Jahren. Rauchen während des Fluges war auch einmal erlaubt. Wer kämpft heute um Wasser und Zigaretten? Das kosmische Kunstwerk hat komische Weiterungen. Komisch wird die Kampfzone auch auf den Ersatzschlachtfeldern von Kunst, die an sich immer ein Produkt des Prekariats, des Defizits ist, von der Bach-Sonate bis zu Punk, von der Höhlenmalerei bis zu Sophie Calle, von der griechischen Tragödie bis zu Schlingensief.
In einer vollendeten Gesellschaft würden sich nicht nur die Politik, wenn man hier Agamben weiterspinnt, sondern auch die Kunst auflösen. Kein Wasser, keine Zigaretten, keine Administration, keine Kunst. Wenn das Prekariat endet, kommt die ewige Akklamation. Das wäre "Schöne neue Welt". Also keine vollendete Gesellschaft hienieden. Wir brauchen das Unvollendete, nicht das Absolute. Vor dem Hintergrund der modernistischen Idee vom idealen Utopischen klingt das tragisch.
Im Vordergrund ereignet sich eine andere, realere Tragödie: Die Politik braucht sich, und die Kunst, die immer politisch ist, braucht sich auch; aber die Politik braucht keine Kunst, denn sie ist selbst "Kunst", die sich aus der Akklamation ableitet. Das macht sie, die Politik in praxi, auch so irr, so relevant und dabei so selbstreferentiell. La politique pour la politique ist die Reaktion der gegenwärtigen Demokratien auf ihre Entmachtung durch die international vernetzte Ökonomie, die nicht kämpft, sondern lediglich besetzt. Die Politik spielt sich, spiegelt sich selbst auf den medialen Bühnen, die zunehmend von dieser Ökonomie getragen werden. Das Ergebnis ist eine "Kunst" des Handelns über Darstellung, das Besetzen von "Bild"-Flächen. So spricht die Politik intim mit dem "Bild"-Träger, wie er zu Beginn dieses Texts auftritt.
Unter dieser Perspektive spielt Kulturpolitik in Österreich – und anderswo auch – einen prononciert akklamativen Part in der großen Performance konkreten Regierens. Alle Versuche, das zu ändern, sind trotz hoffnungsvoller Ansätze aufgrund einer konservativen Kontraktion des Politischen vorerst gescheitert. Die Konstruktion darunter zeigt sich im Format der medialen Bühne am deutlichsten. "Österreich" ist seit einiger Zeit eine Zeitung, deren Hersteller genau das, wenn schon nicht begriffen, so doch "gefühlt" haben ("Neues Deutschland", "France Soir" oder "USA Today" stellen Vorgängeremotionen dar). Und, Luhmann mit Debord kreuzend, kann heute über ein Spektakel des Spektakels verhandelt werden, in dem jede Handlung aufgeht, die Jon McKenzies Motiv des "Perform or else..." folgt – also jede Handlung der praktizierten Politik. Im Spektakel des Spektakels – so hat Debord sich das aber nicht vorgestellt – wirken Akklamation und Kritik gleichermaßen affirmativ, sobald der Beobachter, mit Zizek spielend, parallaktisch aktiv wird. Auch in der Winkelverschiebung des Blicks funktioniert die Didi-Hubermansche These noch: die "Reaktion" des Politischen zwinkert von der Bühne "Österreich" herab wie die mißbrauchte Blondine aus "Bild".
Stunden nach der Landung: Torres Verdes, eine kleine Stadt nahe Lissabon. Eine Diskussion über Kunst. Die Bemerkung, daß Kunst niemals reale Auswirkungen auf die Politik hatte, kommt während eines Symposiums aus dem Publikum. Es gibt keinen Widerspruch. Wie sollte dieser auch aussehen? Niemand weist auf Stockhausens Bemerkung hin. Vielleicht, weil man nicht darüber diskutieren will, was denn nun heute Kunst sei. Rückblende nach Wien ins Jahr 2000. Was tun? Aktionsarbeit bei der Gruppe "Performing Resistance". Wurde dabei Performance(Kunst) zur Performance(Gesellschaft)? Nein.
Also gescheitert? Im Sinn der Kampfrhetorik ja. Aber schön war’s, und alle hatten etwas zu verlieren. Hubsi Kramer als Hitler in der Oper. Das war komisch: Hubsi spielt Charlie! Damit überraschte er alle. Das Bild brach die gleichmäßigen Umzügeszenen in den Medien. Hat Charles Chaplin mit "Der große Diktator" etwas mitbewegt, zum Beispiel die USA in den Krieg gegen Deutschland? Wohl eher nicht. Ist das Lachen eine Waffe? Eisenstein war im Gegensatz zu Chaplin eher humorlos, dafür aber ein virtuoser Bildermacher und Geschichtsklitterer. Die Donnerstagsdemos waren jedenfalls Chaplin näher. Die Kameras der Medien hingegen warteten auf Material à la Eisenstein. Die DemonstrantInnen boten es nicht an und trugen einen ethischen Gewinn nach Hause. Die Demokratie tat den Rest. Alles wird einmal einfach abgewählt.
Franz Morak war eine spaßige Figur. Endlich ein Künstler am Werk: Kulturpolitik als Schauspielerleistung. Morak in der "Rozznjogd" (1971) von Peter Turrini und bei Wolfgang Bauers "Massaker im Hotel Sacher". Unvergeßlich. Und wer hat noch den Rocker im Ohr, die Nummern von der LP "Morak" aus dem Jahr 1980, mit dem neckischen Helnwein-Cover? Und dann die Ära Peymann am Burgtheater – mit der Konsequenz, daß Franz Morak zum Kunststaatssekretär der Christdemokraten wurde und in einer "Realsatire" als lebendes Kunstwerk performte.
Der Schauspieler(Kunst) als Schauspieler(Gesellschaft), und das in einer Heterotopie, wie sie schöner nicht auszudenken wäre. Denn die von Regierungs- und Handelspolitiken erzeugten Inszenierungen können Performative aus der Kunst ausbeuten oder Surrogate schaffen, die den Inszenierungen des Spektakels entnommen werden, wie sie die Wirtschaft – etwa die Auto- oder Computerindustrie – so gerne erzeugt. In jedem Fall sind diese Politiken aber wirksam. In größerem Maß, indem sie Gesellschaften gestalten, und in kleinstem, indem sie Repräsentationskunst fördern und in die "freien" Formen möglichst geringe Mittel fließen lassen. So schaffen sie einen doppelten Prekariatsgürtel. Einmal jenen der Zurückhaltung von Neuentwicklungen und den zweiten als Hinweis auf die prinzipielle Bedeutungslosigkeit von explorativer Kunst.
Flughafen Lissabon, Rückreise: Gespräch mit einem österreichischen Festivalkurator. Er erzählt Anekdoten aus seinen langjährigen Erfahrungen mit Kulturpolitikern. Wir lachen viel, aber der Hintergrund ist weniger komisch. Fazit der Unterhaltung: der Durchschnittspolitiker hat keine Ahnung von zeitgenössischer Kunst. Er will auch nichts darüber wissen. Und sie interessiert ihn nur, wo er sie zur Verbesserung seiner eigenen Performance nutzen kann. Trotzdem: Obwohl es zunehmend so aussieht, es ist – noch – nicht ganz gleichgültig, welche regierungspolitische Konstellation Kunstpolitik macht.
Über Wien liegt eine dicke Wolkendecke. Wien hält sich bedeckt. Das Flugzeug taucht in den undurchsichtigen Brei ein. Der gegenseitige Flirt der einen mit der anderen Konstellation ist nicht zu übersehen. Die als überflüssig erachteten Künstler werden eingelullt und kurz gehalten. Das sieht traurig aus, denn Österreich gilt als eine der reichsten Nationen der Welt. Es ist imstande, aus dem Handgelenk heraus Unsummen in konservative Spektakelkultur und -kunst samt deren Infrastrukturen zu pumpen, die anderswo Gewinne abwerfen. Zugleich werden Investitionen in die künstlerische Zukunft radikal verknappt. Fast möchte man meinen, das wäre ein Abwehrreflex. Die politische Performance scheint Angst vor allem zu haben, was ihr So-tun-als-ob als solches darstellen könnte. Dazu ist auch das Mittel der Zensur recht, wie im Fall der Künstlerin Tanja Ostojic zum Jahreswechsel 2005/2006 besonders deutlich wurde. Diese hatte eine Paraphrase auf Gustave Courbets Gemälde "Der Ursprung der Welt" im Rahmen der peinlich gescheiterten Kunst-Propaganda-Aktion "25 peaces" als Ausdruck einer weltverschlossenen Regierung Schüssel zum Auftakt der österreichischen EU-Präsidentschaftszeit gezeigt. "Pornografisch" hieß es von rechts, "sexistisch" tönte es von links. Beide Konservatismen erwiesen sich als diskursunfähig. Ostojic ist es immerhin gelungen, einen Vorhang zu lüften. Was sich dahinter verbirgt, wissen alle. Aber ihr Plakat "o.T." hat dem Spektakel des Spektakels einen Auftritt verschafft.
Flughafen Schwechat, Landeanflug. Ich erinnere mich daran, als Autor sowohl in einem "rechten" als auch in einem "linken" Medium zensuriert worden zu sein. Angst, Absicherung und Abschottung sind die Folgen einer fatalen Verunsicherung im depravierten Kulturraum Österreich. Dieser Horror vor der Konfrontation mit Denkmodellen der Differenz – das Flugzeug setzt sanft auf – verstellt auch die kleinen Diskursbühnen, die dadurch noch weniger Gültigkeit als Plattformen der Kritik am Spektakel des Spektakels haben. Symbolträchtig scheint die Nachbarschaft von Raffinerie und Bierbrauerei in der Einflugschneise zu Wien. Im Öl zu sein, ist der österreichische Nüchternheitszustand in Sachen Kunst. Gerät ein Fünkchen an diese vernebelte Normalität, wird schnell explodiert, zensuriert oder weggeschwiegen. Das riecht nach der Notwendigkeit, eine andere Diskurskultur zu schaffen. "Sicherheitsgurt lösen"! Ich lege "Österreich" weg.