Jenseits des visibility-Mantras. Transnationale Kulturpolitiken

Internationalisierung, Vernetzung und grenzüberschreitende Projekte gehören zum selbstverständlichen Vokabular städtischer Kulturpolitiken. Was mit diesen Schlagworten allerdings konkret gemeint ist, gibt Anlass für eine kritische Analyse.

Kaufmann Therese

 


Internationalisierung, Vernetzung und grenzüberschreitende Projekte gehören zum selbstverständlichen Vokabular städtischer Kulturpolitiken. Was mit diesen Schlagworten allerdings konkret gemeint ist, gibt Anlass für eine kritische Analyse. Denn der Blick auf die zeitgenössischen, städtischen Kulturpolitiken in Europa lässt zwei Haupttrends erkennen: Einerseits die Orientierung an der alten, aus der traditionellen Auslandskulturpolitik bekannten Import-/Exportlogik und einer Politik der Repräsentation, die die public diplomacy eines Staates gegenüber einem anderen zu begleiten pflegte und auch heute noch in vielen Bereichen die Vorstellung von einem »kulturellen Austausch« prägt, andererseits der Einsatz von Kulturpolitik als Instrument einer kompetitiven Standortpolitik im globalen Wettbewerb, die auf den Ausbau der Kreativ- und Kulturindustrien und kulturelle Großevents und -institutionen für die Tourismuswirtschaft setzt. Dass diese Ansätze nicht nur keinen Widerspruch darstellen, sondern sich vielmehr überlagern und ergänzen, zeigen aktuelle Beispiele. Was die zunehmende Ökonomisierung des kulturellen Feldes bei gleichzeitiger Betonung identitär-nationalistischer Formulierungen aber in jedem Fall nicht leistet, ist die Entwicklung einer transnationalen Kulturpolitik im Sinne einer inhaltsbezogenen, transversalen Form der Zusammenarbeit.

»Kulturpolitik scheint das geeignete Instrument, um das für den Wettbewerb der global cities notwendige branding vorzunehmen: die glaubhafte, authentische Produktion von urbaner Identität.«1 Jener heute so wichtig gewordenen Politik der Differenz2 folgend, versuchen die Städte mit zum Teil gewaltigem finanziellen Aufwand, sich durch die Aura der Einzigartigkeit bei gleichzeitiger Investition in das scheinbar so erfolgreiche Konzept der Kulturindustrien als (Kultur)Standorte zu positionieren. Das Flair der Internationalität sollen ihnen dabei kulturelle Großereignisse wie Festivals mit einem Staraufgebot aus aller Welt, Kunstmessen, Biennalen, reisende Blockbuster-Shows oder Ausstellungen mit extrem teuren Leihgaben aus dem Ausland verleihen, – und jene Aufmerksamkeit erzeugen, die sich ökonomisch verwerten lässt. Oliver Marchart spricht von einer »Biennalisierung des Kunstbetriebs, der sich kaum noch eine Stadt entziehen zu können scheint«.3 Neben dieser »Ereignis-Kultur« verfolgt auch die Gründung neuer Kulturinstitutionen das Ziel lokaler Standortaufwertung und Adressierung des globalen Tourismus – prominentestes Beispiel sind dafür das Guggenheim-Museum in der nordspanischen Stadt Bilbao und seine Verbindung zwischen der global agierenden Salomon R. Guggenheim-Foundation und einer spektakulären Museumsarchitektur. Den gleichen Zielen kommt auch das Label der Europäischen Kulturhauptstädte entgegen, das seit den 1990er Jahren nicht mehr den großen Metropolen Europas verpasst wird, sondern um das sich vor allem Städte mit eher regionaler und bisher oft international geringer kultureller Bedeutung zu bewerben begannen. Wesentlicher Ansatzpunkt all dieser »Projekte« ist Repräsentation im Zusammenspiel mit einer Politik der Sichtbarkeit, die sich direkt oder auch mittelbar in eine ökonomische Dimension übersetzen lassen soll. Was nicht dem visibility-Mantra gehorcht, wird schnell als bedeutungslos und damit nicht förderungswürdig abgetan. Für eine im Neoliberalismus zunehmend unter Druck geratende Kulturpolitik funktioniert diese – oft in übersteigerter, spektakelhafter Form inszenierte – Sichtbarkeit gleichermaßen als populistisches Rechtfertigungsinstrument und Mittel zur Identitätsstiftung. Nicht zufällig hängen viele der oben angeführten Veranstaltungen unmittelbar mit der Herstellung von Bildern zusammen, die sich auf mehreren Ebenen verwerten und an konkrete Machtansprüche koppeln lassen. Dies ist wiederum keine neue Erscheinung, sondern lässt sich historisch zurückverfolgen. So beschreibt Oliver Marchart, wie die Politik der Biennalisierung in der Konstruktion lokaler, nationaler und kontinentaler Identitäten direkt an das Format der Weltausstellungen der Kolonial- und Industrienationen des 19. Jahrhunderts anschließt, und sich damit auch Kontinuitäten von Rassismus, Exotismus und Nationalismus verfolgen lassen.4 Die Weltausstellungen als Ausdruck eines nationalen Wettbewerbs gingen wiederum einher mit einem spezifischen politischen Einsatz von Visualität, d.h. der Ausstellung und Zurschaustellung der eigenen (ökonomischen) Macht bzw. der Subalternität der Anderen, Kolonisierten, die nicht Teil jener »Hegemoniemaschinen der – bürgerlichen, nationalstaatlichen, okzidentalen – Dominanzkultur« waren und auch heute noch nicht sind. Es geht also um die Herstellung hegemonialer Ordnungen durch bestimmte Bilder, die meist gekoppelt sind an naturalisierte, essentialisierte Wahrnehmungen. Dazu gehört die Konstruktion kollektiver Identitäten und Stereotypisierungen, wodurch die Gesellschaft sich quasi selbst im Spektakel des Ausstellens betrachtet.5

Sichtbarkeit kann auch ein Ringen um Anerkennung sein, wie im Falle mancher europäischer Kulturhauptstadt um die Wahrnehmung auf der Landkarte jener »europäischen Kultur«,6 die durch die Programme der EU im Kulturbereich angestrebt wird. Die Politik der Visualität als Form gesellschaftlicher Bedeutungsproduktion wird zum Beispiel an den europäischen Kulturhauptstädten 2009 deutlich: Sowohl Vilnius als auch Linz setzen ganz aktuell in ihrer Inszenierung auf einen Imagewandel hinsichtlich ihrer politischen und sozialgeschichtlichen Vergangenheit. Linz soll nicht nur ein »Schaufenster für die Vielfalt Europas«7 bieten, sondern anstelle von Hitlers Lieblingsstadt und Schwerindustriestandort als neue, international vernetzte Kulturmetropole wahrgenommen werden, während sich Vilnius von seinem postsozialistischen Erbe verabschieden und von der Peripherie ins Zentrum zeitgenössischer Kunst und Kultur in Europa spielen will. Bezeichnenderweise findet die europäische Großveranstaltung in Vilnius gleichzeitig mit Litauens Millenniumsfeiern statt, während im Vorfeld Verhandlungen über die Errichtung einer Guggenheim-Dependance liefen.8 Nationbuilding, Imagekampagne und der Versuch, an den kulturindustriellen Hype à la Bilbao anzuschließen treffen hier somit in exemplarischer Weise aufeinander – und zwar mit der massiven Unterstützung durch öffentliche Gelder, während wie auch an vielen anderen Orten weniger prestigeträchtige Projekte kaum Zuwendung erhalten.

Transnationale kulturelle Kooperationen in Form transversaler Prozesse und Strukturen, die solche »hegemoniale Ideologiemaschinen« nicht bedienen können oder wollen, die keine vermarktbare Repräsentationsflächen bieten, sich nicht als »strategische Investitionen« argumentieren lassen und auch nicht von Projekten emblematischer Überhöhung vereinnahmen lassen wollen, werden oft kulturpolitisch marginalisiert oder ignoriert, was gleichbedeutend mit ihrer finanziellen Aushungerung ist. Dabei wird übersehen, dass viele Formen transnationaler Zusammenarbeit in ganz anderer Weise funktionieren müssen, um gemeinsame Arbeitsweisen und Inhalte auf hohem Niveau entwickeln zu können. Einerseits sind solche grenzüberschreitenden Netze oder Austauschprojekte oft mehr prozess- als produktorientiert bzw. werden die »Produkte« – so es welche gibt – oft nur teilweise oder vielleicht auch gar nicht sichtbar. Kooperationen mögen zwar von einem bestimmten Ort ausgehen, doch stellt dieser eben immer nur einen Punkt in einem größeren Zusammenhang dar, während die Ergebnisse der Prozesse möglicherweise andernorts, in anderen Sprachen und Kontexten und auch zu ganz anderen Zeitpunkten in Erscheinung treten. Eine unmittelbare Sichtbarkeit vor Ort gibt es somit oft nicht. Dass lokale Kulturpolitiken dafür meist wenig Verständnis haben, davon können KoordinatorInnen von EU-Projekten ein Lied singen, die bisweilen über Jahre hinweg verzweifelt versuchen, die nötige Kofinanzierung aufzutreiben.9 Am schwierigsten ist es für jene, deren Aktivitäten vor allem diskursorientiert, politisch, virtuell und auch sonst nicht massen- oder mehrheitstauglich sind. Den Spießrutenlauf zwischen den unterschiedlichen kulturpolitischen Ebenen – national, regional und kommunal –, kennen auch die europaweiten und mittlerweile zum Teil global agierenden Kulturnetzwerke, die seit Beginn an um ihre Existenz kämpfen.10 Auf allen diesen kulturpolitischen Ebenen fehlt nach wie vor ein grundsätzliches Verständnis für eine solche Form transnationaler Arbeit. Dabei könnte gerade von den urbanen Kontexten ein Impetus für eine mutige Weiterentwicklung transversaler Initiativen ausgehen.

Die geografische Transversalität, die eine Aufsplitterung, Verschiebung und auch mögliche zeitliche Verzögerung dessen bedeutet, was in der Politik der Sichtbarkeit als Repräsentationsfläche dienen soll, lässt auch die klare Trennung zwischen Innen und Außen nicht mehr so einfach zu. Das Außen wird nicht länger einfach ausgeblendet, sondern wird Teil einer konkreten politischen Strategie. So versuchte beispielsweise Okwui Enwezor, Leiter der Dokumenta11 eine Dislokation und Ent-Okzidentalisierung der Veranstaltung anzustreben, indem er diese in mehreren Teilen, nicht nur in Kassel und Wien, sondern auch an der so genannten Peripherie der westlichen Kunstwelt, in der Form theoretischer Plattformen in Lagos und Santa Lucia, stattfinden ließ. Für die zukünftigen Ausgaben dieser größten Schau zeitgenössischer Kunst in Europa wurde nun vorgeschlagen, sie in Zukunft überhaupt nicht mehr in Kassel abzuhalten, sondern an andere Orte reisen zu lassen,11 was allerdings auch nur eine kosmetische Veränderung darstellt, wenn sie nicht von einer grundlegenden strukturellen Verschiebung und Politisierung der Inhalte begleitet ist.

Dieser räumliche Aspekt von Dislokation ist selbstverständlich nur ein Aspekt, der ergänzt werden muss um eine inhaltliche und auch strukturelle Dimension, dem Aufbrechen bestehender Strukturen und fixierter Identitäten sowie um eine Auseinandersetzung mit Inhalten und Kontexten, die sich nicht automatisch in die herrschenden Diskurse integrieren lassen und außerhalb und jenseits der zu Beginn beschriebenen kulturpolitischen Trends liegen. Deshalb kann es auch nicht darum gehen, marginalisierte Positionen einfach ins Feld der Sichtbarkeit zu rücken, wie uns die vorherrschenden – und auf kulturpolitischer Ebene gern propagierten – visibility-Diskurse Glauben machen wollen. Was hier propagiert wird, ist ein Zwang zur Sichtbarmachung, die oft einhergeht mit plakativen Öffentlichkeitskampagnen in Kombination mit massentauglichen Pressetexten, Logo-Schlachten oder der bereits angesprochenen Vereinnahmung für die Zugpferde der kulturellen »Hegemoniemaschine«, z.B. emblematische Großevents etc. Dies soll aber auch kein Plädoyer für die gezielte Unsichtbarmachung sein – dies hieße nur, das dichotomische Gegensatzpaar von sichtbar/unsichtbar und die herrschende politische Ordnung zu bestätigen. Der evidente – vielfach theoretisierte – Zusammenhang zwischen Sichtbarkeit und Macht bleibt insofern ambivalent, da »jegliches Sichtbarwerden immer auch eine Affirmation gegebener Strukturen der Sichtbarkeit und damit genau der kritisierten minorisierenden Logiken bedeutet«.12 Dies impliziert, dass sich Sichtbarkeit keineswegs automatisch in politische Macht übersetzen lässt und noch viel weniger einen emanzipatorischen Effekt haben muss. Somit geht es im Sinn einer politischen Strategie nicht um Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit, sondern um die Bedingungen derselben, d.h. eine Auseinandersetzung mit den Verhältnissen, die für die Herstellung und Perpetuierung dieser Sicht- bzw. Unsichtbarkeiten ausschlaggebend sind.

Für eine kulturpolitische Agenda zählen zu diesen Verhältnissen etwa die eklatanten – symbolischen wie materiellen – Ungleichheiten und asymmetrischen Machtverhältnisse im kulturellen Feld im Zeitalter der Globalisierung, welche heute gängige Thesen über die  Herausbildung eines egalitären globalen Dialogs zwischen westlicher und nichtwestlicher Kunst und die Auflösung von Zentrum-Peripherie-Modellen widerlegen;13 die fast paradoxe Situation zunehmend restriktiver Reise-, Aufenthalts- und Visa-Regimes als Mechanismen der Ausschließung, Kontrolle und Behinderung von Mobilität, während die EU mobility-Programme für Kulturschaffende zu einer der zentralen Maßnahmen ihrer Kulturpolitik erklärt; die hartnäckige Weigerung europäischer Staaten, über Restitution, Zirkulation oder neue Formen des Austauschs von kulturellen Objekten zu verhandeln, die als Zeugen kolonialer Gewalt und Ausbeutung in den Museen der europäischen Metropolen beachtliche Gewinne erwirtschaften;14 die zunehmenden Mechanismen von Ausschluss und Kriminalisierung durch restriktive Copyright-Regimes, etc.

Rahmenbedingungen wie die genannten be- oder verhindern die Entwicklung partizipativer und emanzipatorischer künstlerischer Praxen ebenso wie die Herstellung kritischer Öffentlichkeiten. Für diese würde es eines klaren Bekenntnisses zu demokratiepolitischen Zielsetzungen von Kulturpolitik bedürfen sowie des Muts zu Risiko und Komplexität in der Schaffung neuer Foren des Austauschs. Zwar mögen diese Zielsetzungen auch auf andere – lokale, nationale, regionale – kulturpolitische Ebenen zutreffen, der springende Punkt aber ist, dass in ihrer Transnationalisierung, d.h. in einer Auseinandersetzung mit diesen und ähnlichen Fragestellungen über nationale Grenzen hinweg, ein entscheidendes Potenzial liegt. Allerdings stellt dies spezifische Anforderungen sowohl an die Politiken innerhalb der Städte als auch an ihre Vernetzungsleistungen. Es bedarf einer Kulturpolitik, die sich inhaltlich wie auch strukturell mit den globalen Transformationsprozessen von Arbeit, Leben und den gesellschaftlichen Zusammensetzungen auseinandersetzt, die Europas Städte heute prägen – insbesondere hinsichtlich der Lebens-, Arbeits- und Produktionsbedingungen für internationale AkteurInnen des kulturellen Felds. Betreibt die »Kulturstadt« also nur bürokratisiertes diversity-Management oder bekämpft sie die offenen oder auch latenten Formen von Rassismus und Diskriminierung und setzt sich ein für die Schaffung von Visa- und Aufenthaltsbedingungen, die einen wirklich internationalen Ort überhaupt erst ermöglichen?15 Setzt sie sich kritisch auseinander mit den (post)kolonialen und (post)imperialen Grundlagen ihres kulturellen Erbes? Diese Fragen verlangen auch einen kulturpolitischen Blick über den Gartenzaun: Welche Position nimmt die »Kulturstadt« gegenüber den existierenden und möglichen prospektiven Kulturpolitiken auf transnationaler Ebene ein? Dies betrifft heute vor allem die europäische Kulturpolitik und die Diskussion um deren mögliche weitere Entwicklung, unter anderem in Bezug auf die kulturelle Dimension der Außenpolitik der EU und die Kooperation mit so genannten Drittländern?

Die »Kulturstadt« von internationalem Rang muss sich also fragen, ob sie auf eine Politik der Sichtbarkeit im Zuge der zunehmenden Ökonomisierung des kulturellen Felds bei gleichzeitigem Festhalten bzw. einer neuen Formulierung identitär-nationalistischer Kulturpolitiken setzt – oder aber auf Partizipation und Offenheit über nationale Grenzen hinweg.

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