In seinem 2000, am Höhepunkt der »new economy« erschienenen Buch »Bobos in Paradise« skizziert David Brooks den »Lebensstil der neuen Elite«, der sich in den Jahren des Booms der Internet Startups im Stadtbild wohlhabender Metropolen ausgebreitet hatte.1 Bobos versöhnen Bourgeoisie und Bohème, so Brooks, indem sie vormalige Widersprüche ausbalancieren: sie streben nach Unverwechselbarkeit – aber nicht zu gewagt; nach Erfolg – aber auch unorthodoxem RebellInnentum; Wohlstand – aber ohne Anschein der Gier; Luxus – aber mit sozialem Gewissen etc. Neben dem Anspruch, sich in der Arbeit selbst zu verwirklichen, drückt sich diese soziale Gruppe im Konsum aus. Auch in Wien wurde es Mitte der Nuller-Jahre zum beliebten Feuilleton-Sport2, äußerliche Erkennungsmerkmale und Konsumgewohnheiten von/für Bobos zu stereotypisieren: Umhängetasche, Dreitagebart bei Männern, Sneakers, Kombination aus Designer- und Flohmarkt-Klamotten, eine Vorliebe fürs zelebrierte Kochen, Cafe Latte-Konsum, fair trade Produkte etc.
Es ist eine soziale Formation, die seit etwa zwei Jahrzehnten unter verschiedenen Namen auf- und abtaucht, in denen unterschiedliche Facetten desselben Phänomens hervorgehoben werden: Der Begriff »immaterielle ArbeiterInnen« stellt auf ihre Tätigkeitsschwerpunkte in der Lohnarbeit ab (und verheißt bei Maurizio Lazzarato, Toni Negri und Co. ein gesellschaftsveränderndes Potenzial). »Massenboheme« verweist auf die Ausbreitung vormals avantgardistischer und studentischer Kultur im Mainstream. »Digitale Bohème« versucht, dem zerstörten new economy-Mythos von der Selbstverwirklichung als free lancer noch einmal Leben einzuhauchen. »Kreative Klasse« schließlich betont die führende Rolle in der innovationsorientierten Ökonomie und zielt auf ein neues Selbstbewusstsein ab, das Ansprüche an die Gesellschaft im Auge hat.
Richard Florida heißt der Mann, der »The rise of the creative class« als Buchtitel gewählt hat und damit zumindest seinen eigenen Aufstieg befördert hat.3
Was diese Klasse eint, ist das »kreative Ethos«, so Florida. Es umfasse Werte wie Individualität, Leistungsorientierung, Vielfalt und Offenheit. Zu drei Viertel also Werte der ehemaligen Gegenkultur, die nun aber auf dem Weg an die Spitze der Gesellschaft ist. Ein besonderes Merkmal dieser Gruppe sei ihre Zusammenballung an bestimmten Orten, Bezirken, Gegenden. Diese fungieren als Statussymbol, die Ansprüche an die Wohn- und Arbeitsumgebung sind hoch. Eine neue geografische Segmentierung sei die Folge, nach sozialer Klasse. Gegenüber den engen Communities von früher wollten die Leute heute Diversität, geringe Zutrittsbarrieren und die Möglichkeit, sie selbst zu sein. Florida versammelt eine Vielzahl an Indikatoren
(u.a. einen »bohemian index«), um eine starke These zu untermauern: Städte, die heute im globalen Standortwettbewerb mithalten wollen, müssen Offenheit, Diversität und eine jugendliche Aura fördern. Nur so könne die global mobile kreative Klasse, die den Schlüssel zu wirtschaftlicher Prosperität in Händen halte, veranlasst werden, sich vor Ort niederzulassen. Die Förderung eines »people climate« sei stadtpolitisch wichtiger als eines »business climate«, so Florida. Als Berater reist er um die Welt, um diesen Ratschlag an BürgermeisterInnen und Standortbeauftragte auf der Suche nach neuen Ideen weiterzugeben.
Auch in Wien kann Florida Anschauungsmaterial finden. 2002 wurde mit dem Museumsquartier und seiner Bobo-Zone »quartier21« der Versuch gemacht, einen solchen Distrikt künstlich herzustellen.4 In unmittelbarer Nähe des Bobo-Embryonal-Biotops Wien-Neubau gelegen, war der Standort gut gewählt. Räumliche Nähe ist das Stichwort: Die Bobo-Viertel bilden so genannte »Cluster«. So werden räumliche Zusammenballungen verwandter Wirtschaftsbranchen genannt, deren Schaffung bzw. Unterstützung in den letzten zwei Jahrzehnten zum Hauptziel wirtschaftspolitischer Standortkonzepte geworden ist. Bobos können sich somit der vollen Aufmerksamkeit der Wirtschaftspolitik sicher sein, die – angefeuert von Beratern wie Richard Florida – den Wünschen der Bobos zunehmend Aufmerksamkeit schenkt: Wo andere als SchmarotzerInnen abgewertet werden, gelten sie als Zukunftsinvestition.
Das war nicht immer so: In den 1980er Jahren waren die Prä-Bobo-Blätter voll von Klagen, wie tot diese Stadt sei. Diese Klientel kann sich heute über mangelndes Angebot nicht mehr beschweren. Ob das für die Vorstadtjugendlichen auch gilt, ist weniger klar. Ihre Artikulationsmöglichkeiten beschränken sich auf die Chatforen im Internet, während Bobos in der Medienbranche zu Hause sind.
Die Verclusterung des Stadtraums führt zu sozial homogenisierten Gegenden, wo wachsende Wahlerfolge Bobo-affiner Parteien in bestimmten Bezirken eher als Gentrifizierungsindikatoren denn als Ausdruck erfolgreicher politischer Arbeit verstanden werden müssen. Die räumliche Segregation ist auch eine soziale: Bobos bleiben unter sich, und dieses Umfeld ist bürgerlich.
Die Bobo-Distrikte gibt es in den meisten wohlhabenden Metropolen und sie bilden untereinander einen impliziten Verbund, eine eigene Welt, innerhalb derer ihre BewohnerInnen mobil sind – und zwar weitaus mobiler als innerhalb der Stadt, in der sie wohnen. Es sei wahrscheinlicher, jemand Bekannten in einem einschlägigen Viertel in irgendeiner anderen Stadt auf der Welt zu treffen, als auf einer Straße außerhalb des Viertels in der eigenen Stadt, so Diedrich Diederichsen in einem Beitrag über Kreativdistrikte à la Berlin Mitte.5 Die Abschottung gegen die unmittelbaren lokalen Probleme scheine den Beteiligten gerade der überzeugendste Beweis ihrer Weltzugehörigkeit und -geltung. KünstlerInnen seien damit Leuten aus dem Management recht ähnlich (eben bourgeoise Bohemians). Sie leben in einer eigenen, abgeschotteten Welt, in der sozial Minderprivilegierte vorwiegend als potenziell exotisches Konsumobjekt fungieren, aber als AkteurInnen eher als störend empfunden werden: »Vom räudigen Marktgrätzel zur Künstlergegend für den Bohemien mit Kohle: In fünf Jahren hat das Freihausviertel eine Blitzkarriere hingelegt. Aber jetzt eröffnet schon das zweite Prolo-Lokal. Eine Bedrohung für das schicke Viertel?«, kann da schon mal unverblümt aus sozialer Durchmischung ein Bedrohungsszenario gezimmert werden.6
»Kann ich dich in meinen Film einbauen?« So begegnen kreativ arbeitende Bobos sozial Unterprivilegierten,7 denn der Nutzwert als exotisches Objekt scheint die einzig denkbare Form des Verhältnisses zu sozial und kulturell Deprivilegierten sein. Interessant ist die Person aber nur, wenn ihr dieses Interessantsein nicht bewusst ist und so der boboistischen Verfügung unterliegt. Authentisch, nicht selbstreflexiv. Sobald sie selbstbewusstes Subjekt wird, gilt sie nicht mehr als interessant, sondern als gefährlich. Eine Beschreibung der Berliner Bobo-Filiale Prenzlauer Berg: »Der Stadtteil wirkt wie ein kleines migrationsfeindliches Biotop der gehobenen Mittelschicht, eine geschlossene Gesellschaft, die sich nach unten durch den Quadratmeter-Preis der Wohnflächen hermetisch abriegelt. Aber vielleicht ist die Fallhöhe zwischen denen, die drinnen sind, und denen, die während dieser gigantischen Sanierung verdrängt wurden, nicht so groß, wie es scheint, und vielleicht produziert genau das diesen Eindruck des Künstlichen, diese ständige Selbstkontrolle, die Diktatur des ›guten Geschmacks‹ und das nervöse Abchecken der Anderen. Irgendwie wird da immer zu laut gerufen ›Uns geht es sooo gut‹.«8
In den Bobo-Clustern herrscht eine Abgrenzung nach unten, die rein gar nichts mit der bohemistischen Auflockerung des Bürgerlichen zu tun hat, die in anderen Lebensaspekten gepflegt wird. Das Klassenressentiment des 19. Jahrhunderts lebt hier ungebrochen fort. Vielleicht ist es der prekäre ökonomische Status vieler Bobos, ihr geringes bzw. unsicheres Einkommen, der die Hervorhebung des kulturellen Kapitals und darauf basierende Abgrenzungsstrategien umso wichtiger macht.
Zwei lokale Episoden der jüngeren Vergangenheit zur Verdeutlichung:
Early AdopterIn, wenn nicht gar TrendsetterIn zu sein, ist ein zentrales boboistisches Standesmerkmal. Die Inszenierung von Überlegenheit gegenüber der Masse erfordert eine Form des Individualismus, dessen Merkmal weniger in der individuellen Abweichung als im Früh-dran-sein besteht, denn er zielt auf die Anerkennung von anderen – und die stellt sich nur ein, wenn sich die Abweichung im Rahmen vorhandener bzw. antizipierter geteilter Werthaltungen bewegt. Diese Umstände erfordern ein stetig waches Auge auf die Umgebung zu werfen, um in der Früherkennung von sich herausbildenden neuen Stilformen nichts zu verpassen. Bobos beeinflussen die öffentliche Wahrnehmung von kulturell Neuem, da sie stark in Kultur- und Medienberufen vertreten sind. Eine Gruppe sich gegenseitig beobachtender Menschen versorgt sich so wechselseitig beständig mit kleinen stilistischen Adaptionen im Rahmen eines Meta-Kanons, der sich so in einem fort weiterentwickelt. Gleichwohl gehört die Klage über die Industrialisierung dieser Haltung zum guten Ton: Man wähnt sich von Trendscouts im Dienste von Markenunternehmen beobachtet, die den guten Stil abschauen und zur Massenware machen wollen.
Dass die Selbstbezüglichkeit von AußenseiterInnen erschüttert wird, ist selten. 2007/08 war so ein Fall. Das »Krocha«-Phänomen wurde von der österreichischen Öffentlichkeit entdeckt, und lief im Frühjahr 2008 zum medialen Massenphänomen auf, das sich seinen Weg bis in die Hauptabendprogramme des ORF bahnte.9 Das Objekt der Faszination bildeten Vorstadtjugendliche, die in Wohnzimmer und Großraumdiscos perfektionierte Techno-Tanzeinlagen verbunden mit einem aufgepeppten 1980er-Look entwickelt hatten und auf die Straße trugen. Ein regionales Jugendkulturphänomen war entdeckt. Bobos, im Selbstverständnis nicht nur die Hauptquelle stilistischer Innovationen, sondern auch hauptamtliche ErstentdeckerInnen in Print und Funk, waren spät dran. Monate-, wenn nicht jahrelang hatte die Krocha-Jugend ihr Ding entwickelt, ohne dass es bemerkt wurde. Von boboeskem Trendscouting, das in allerlei Medienberufen sein Geld verdient, keine Spur. Den Grund für die lang gepflegte Ignoranz konnte man am abschätzig-ironischen Grundton ablesen, der die Mehrheit der Kommentare in den Trendmedien prägte, sobald die Krocha im Rampenlicht standen: Soziale Distanz. Verachtung, Ironie, Häme für den angeblichen Mangel an Finesse und Artikulationsfähigkeit der Krocha, an der mangelnden Qualität ihrer Musik, ja an ihrer »unpolitischen« Haltung (und das u.a. aus dem Mund von VeranstalterInnen absolut unpolitischer kommerzieller StudentInnenclubs!) dominierten die Krocha-Rezeption in Bobo-Zirkeln.
An diesem Zusammentreffen wurde zweierlei deutlich: Bobos und soziale Gruppen mit geringerem ökonomischen und kulturellen Kapital sind erstens in derselben Stadt dermaßen räumlich bzw. sozial separiert, dass Vorgänge in der einen Gruppe, die für die andere Gruppe gemäß deren Wahrnehmungsraster (Jugend! Trend!) von hoher Relevanz wären, lange Zeit unbemerkt vonstatten gehen können. Und zweitens, dass die Selbstdefinition der Gruppe eine implizite soziale Trennung mit Aufgabenzuschreibung (z.B. für Stilinnovationen sind wir zuständig, und ihr seid bestenfalls für einfallslose Nachahmung und Vermassung ein paar Monate später zuständig) vorsieht, deren Nichteinhaltung mit Abwehr, Missachtung und Verächtlichmachung bestraft wird. Während die Bobos in den Werbeagenturen den Trend ironisch aneignen (Das Museum lockte bald mit »Na Braque, Oida«, die Straßenbahn mit »Bim, Oida« und das Handy mit Krocha-Videos auf youtube), werden die realen TrägerInnen dieser Kultur betont herablassend beurteilt.
Wenige Monate später fanden in Österreich Nationalratswahlen statt. Rechtsextreme Kräfte konnten dabei wieder zu jener Stärke aufschließen, die ihnen 2000 in die Regierung verholfen hatte. Was damals einen Proteststurm ausgelöst hatte, der mit einem Politisierungsschub in vielen Bobo-Segmenten verbunden war.
Acht Jahre später schien von dieser Protesterfahrung nur noch Ressentiment übrig. Dass sich ein stilisierter Krocha vor der Wahl 2008 in einer Karikatur (von Falter-Zeichnerin und »Boboville«-Buchautorin Andrea Dusl) als Inbegriff des FP-Wählers wiederfand, zeichnete vor, was nach der Wahl zum Hauptthema in der boboesken Wahl-Nachlese wurde: ArbeiterInnenjugendliche sind für den Sieg der Rechten verantwortlich. Auf Basis von methodisch gewagten Umfrage-Hochrechnungen konzentrierte sich die Diskussion auf das Erschrecken darüber, dass unter den Jungen die Rechten verhältnismäßig stark abschnitten. Dass sie in allen anderen Alters- und Bildungsgruppen auch beträchtliche Stärke auswiesen, und in keiner Alters-, Berufs- oder Geschlechter-Gruppe unter 20% liegen, wurde demgegenüber wenig beachtet.
Dass die boboeske Wahrnehmung des Wahlergebnisses sich auf eine von Überraschung und Ekel geprägte Tirade gegen die ArbeiterInnenjugend verengte, bringt die soziale Distanz zu den verachteten Gruppen zum Ausdruck. Deutlich wurde das in Wahlkommentaren von Szene-Figuren, in denen die politische Abgrenzung von sozialer Abgrenzung überlagert wird. Manche bekannten, auswandern zu wollen. Andere meinten, schlimmer noch als das Wahlergebnis sei die Vorstellung, mit »so etwas« Tür an Tür zu wohnen.10 Wieder andere widersprachen der Interpretation, die ArbeiterInnenjugend sei rechts, mit der Behauptung, im Wahlergebnis komme nicht politische Gesinnung, sondern vor allem Dummheit zum Ausdruck.11 Rechtsextremismus wird so zum Unterschichtenproblem reduziert, was nicht nur seine Quellen und Verbindungen in der Mitte der Gesellschaft ausblendet, sondern auch Antifaschismus für Klassenressentiments enteignet, und somit seine Legitimation untergräbt.
Das Bobo-Phänomen breitet sich in einem gesellschaftlichen Kontext aus, in dem Klassengrenzen wieder rigider gezogen werden, was sich auch im Stadtraum niederschlägt. Das Versprechen sozialer Mobilität und von Aufstiegsoptionen, das eine kurze Reformphase an der Schwelle zum letzten Viertel des 20. Jahrhunderts begleitete, ist verpufft. Das macht sich auf allen Ebenen bemerkbar: Ein bereits sozial segmentiertes Bildungssystem wird noch undurchlässiger gemacht (Fachhochschulen als Uni zweiter Klasse, Studiengebühren etc.). Wo auf dem Arbeitsmarkt »soft skills« gegenüber formalen Ausbildungen immer wichtiger werden, entscheidet die soziale Herkunft mehr denn je über die Vergabe von Jobs. Privatisierung von Staatsbetrieben und Entmachtung der Gewerkschaften verschließen alternative Karrierewege für die Arbeiterschaft. Das Hocharbeiten in Privatunternehmen ist keine Option mehr, da Betriebszugehörigkeiten immer kürzer werden und Managementpositionen zum eigenen Berufszweig werden, die kein erreichbares Ziel mehr für Aufstiegswillige darstellen, die in einem Betrieb unten angefangen haben.
Die Abgrenzungsobsession der »kreativen Klasse« (Florida) gegenüber dem gesellschaftlichen »Unten« spiegelt diese Tendenzen wider. Selbstreflexion über diese Konstellation von Seiten der »neuen Elite« (Brooks) wäre sicher hilfreich. Die verlockende moralische Geißelung abgehobener Eliten (man darf nicht vergessen: Bobo-Bashing ist ein Bobo-Lieblingssport!) sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es vor allem um stadtpolitische Intervention zur räumlichen und sozialen Durchlässigkeit statt Cluster- im Sinne von Festungsbildung geht, sowie um eine Konfrontation jener Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, die nicht einmal mehr den Minimalanspruch der Chancengleichheit aufrechterhält, von materieller Gleichheit ganz zu schweigen.