»Die Panorama-Stadt ist ein theoretisches (das heißt visuelles) Trugbild, also ein Bild, das nur durch ein Vergessen und Verkennen der praktischen Vorgänge zustande kommt. Der Voyeur-Gott, der diese Fiktion schafft, muss sich aus den undurchschaubaren Verflechtungen des alltäglichen Tuns heraushalten und ihm fremd werden.«
(Michel de Certeau)
Mediale Städte lesen zu wollen wie einen Text, der sich vor uns ausbreitet, entspringt dem Überschwang eines skopischen Begehrens, durch das sich die panoptische Fiktion des Wissens Ausdruck verschafft. Die folgenden Ansichten versuchen daher keineswegs die Verwandlung der urbanen Medialität durch die Schaffung einer theoretischen Distanz einzulösen, die letztlich nur DatenvoyeurInnen des öffentlichen Raums hervorbringt; sie mäandern vielmehr in Art der FlaneurInnen durch eine mediale Urbanität, die aus den Versatzstücken mehrerer Städte (Wien, Berlin, Rotterdam, New York, Sao Paolo und Bandung) während unterschiedlicher Momente am Beginn des 21. Jahrhunderts montiert ist. Dabei wird der Versuch unternommen, eine Psychogeographie medialer Städte in der Form einer urbanen Forschung zu entwerfen, indem wir unsere Schritte neben die alltäglichen Routinen und Haltungen setzen, um den Stadtraum erneut zu erfahren und damit aus der urbanen Begehung eine Performance der Alltagspolitik zu entwickeln. Deleuze und Guattari erinnern daran, dass sich Reisen »weder durch die objektive Qualität von Orten, noch durch die messbare Quantität der Bewegung [unterscheiden], noch durch irgend etwas, das nur im Geiste stattfindet, sondern durch die Art der Verräumlichung, durch die Art im Raum zu sein, oder wie der Raum zu sein.« (Deleuze/ Guattari 2006: 443) Die hier unternommene Art im Raum zu sein inspiriert sich an jenen von Walter Benjamin in seiner Untersuchung über Paris im Zeitalter des Hochkapitalismus beschriebenen Baudelairschen FlaneurInnen, die in ihrer spleenigen Subversion einer zunehmenden Schnelligkeit der industrialisierten Urbanität gemächliche Schildkröten an der Leine spazieren führten. Durch solche Taktiken des Verhaltens im Raum bringen die urbanen FlaneurInnen nach der Art von AsphaltbotanikerInnen in den Fugen der allseits gekerbten Stadt Bruchstücke von Glattem zum Wuchern; wäre die mediale Urbanität eine Datenbank, würden unsere Reisen in ihr neue Algorithmen einer OpenSource-Software entwickeln. Tauchen wir ein in jenen urbanen Film, den wir uns alltäglich mit dem Soundtrack unserer tragbaren mp3-Player neu montieren, und fabrizieren wir in einer Bewegung quer zur »Gesellschaft des Spektakels« (Guy Debord) unsere eigene Kollage durch die Ver- und Entkoppelung der vorhandenen urbanen Medien.
In der Semiosphäre des Phantoms mediatisierter Urbanität lässt sich zunächst die Anwendung von strategischen und taktischen Medien ausmachen. Verhalten sich strategische Medien wie expansive Kalküle, die auf die fortschreitende Kontrolle von Rum und Zeit ausgerichtet sind, so arbeiten taktische Medien in je bereits strukturierten Raum- und Zeitgefügen, in deren Fugen, Spalten und Öffnungen sie sich einnisten. Ein schelmisches Bild von Pepi Öttls früher – vorinternetzeitlichen – transatlantischen Projektion wirft Licht auf die Gewitztheit, die im taktischen Mediengebrauch steckt: »Wien grüßt Amerika« schrieb Anfang der 1990er Jahre ein Bildwerfer in die der militärischen Kommunikation vorbehaltenen Satellitenschüsseln am Flakturm der Stiftskaserne, worauf beim Operateur ein Mobiltelefon, groß wie eine Seegurke klingelte: »Ah, aha, New York, okay« und bald darauf war in der Satellitenschüssel »America greets Vienna« zu sehen. Ein projizierter Fake, der eine spielerische Verwendung für die militärisch reglementierte Medienanordnung findet und zugleich ein optisches Echo der ersten Schritte früher Telekommunikation, in der sich das Medium nahezu unwillkürlich zuallererst seiner selbst versicherte. »Aló, aló« waren die ersten Worte, die durch Marconis Fernsprechgerät übertragen wurden und »Hallo, hallo« ist noch immer die häufigste Ansage, die am Beginn eines Telefongesprächs sich vor allem an die Präsenz des Mediums selbst richtet.
An der Grenzfläche von strategischen und taktischen Medien lässt sich eine weitere, nicht minder folgenreiche Unterscheidung treffen, die den seit Foucaults Untersuchungen allgegenwärtigen Begriff der Macht differenziert. Diese Macht, die oft bedenkenlos aller Art von Medien zugemutet wird, spaltet sich (aufgrund ihrer lateinischen Etymologie und nicht zuletzt aufgrund der Verwendung, die sie bei Spinoza gefunden hat) in potestas und potentia, in Macht und Vermögen. Während der potentia (dem Vermögen) eine dynamische und konstituierende Dimension eignet, ist die potestas (die Macht) statisch und strukturell festgelegt; potentia bezeichnet unser Vermögen etwas zu tun, zu bewirken und dabei selbst beeinflusst zu werden, indes die Mechanismen der Repräsentation, welche die potestas charakterisieren, die potentia vom Repräsentierten trennen.
Diese sprachlich logische Unterscheidung findet entsprechende Bilder in den visuell performativen Architekturen der zeitgenössischen Urban Screens. Den FlaneurInnen am Donaukanal bietet etwa die Medienfassade des Uniqua-Tower neues Material für ihre alltagspolitische Collage: Eine großflächige, imposante und variable Farbmalerei konkurriert erfolgreich mit den bewegten Lichtern des vorbeibrausenden Verkehrsstroms. Eine moderne, hoch gelobte Technologie, ausgezeichnet mit einem EU-Umweltpreis für energieeffiziente Fassadenbeleuchtung, und doch vermag sie nichts als die Inszenierung der topographisch-logotypischen Macht eines Versicherungskonzerns.
Wie anders präsentierte sich dagegen die Medienfassade »Blinkenlights« am Berliner Alexanderplatz 2001 – der Chaos Computer Club hatte die Fenster des leer stehenden, einst realsozialistischen Haus des Lehrers in Pixel verwandelt, die als niedrig auflösender schwarz-weiß Screen dem Publikum per SMS zugänglich interaktiv ansteuerbar waren. Hier wurden Liebeserklärungen gepostet, Smileys verschickt oder Videogames gespielt; wie sehr hier das Vermögen medialer Urbanität ausgelotet wurde, zeigt nicht zuletzt die enthusiastische Reaktion Wolfgang Lanzenbergers auf die Installation:
»Sie trafen den Nerv der Zeit; mehr als Glas, Stahl und Beton es je zusammen könnten. Die blinkenden Lichter waren Ausdruck einer kreativen Stadtkultur. Als Medienfassade haben sie genau das erreicht, was eine Stadt sein soll: ein Treffpunkt der Menschen, eine Plattform für Meinungen, ein Marktplatz der Ideen.«
Solche Formen gewitzter, phantasievoller und spontaner Kommunikation fungieren als Knotenpunkte urbaner Subjektivierungsweisen und zeitgemäße Stadtplanung müsste es sich zur Aufgabe machen, die politischen, ökonomischen und ästhetischen Dispositive zu fördern, durch die derlei Verwandlungen erprobt werden können. Dann allerdings wäre sie nicht mehr länger eine Politik der Repräsentation, sondern vielmehr eine Politik des Experimentierens.
Eine solche experimentelle Politik wäre auf die Erforschung der Möglichkeiten zur Produktion sozialer Räume gerichtet, deren Bedeutung für die StädtebewohnerInnen kaum überschätzt werden kann. Pierre Bourdieu fand dafür klare Worte: »Der soziale Raum ist eben doch die erste und letzte Realität, denn noch die Vorstellungen, die die sozialen Akteure von ihm haben können, werden von ihm bestimmt.« (Bourdieu 2006: 365 f.) Zweifellos produziert jede Gesellschaft (genauer gesagt, jede Produktionsweise und die sie strukturierenden Produktionsverhältnisse) ihre eigenen Räume. Diese Produktion erfolgt vermittels unterschiedlicher Raumpraktiken, die wiederum stets, wie Gaston Bachelard nachwies, mit ebenso sozial wie individuell geprägten Imaginarien verschränkt sind. Ein Blick auf die gängigsten Praktiken im Umgang mit medialen Räumen erzählt einiges über die Strukturiertheit dieser Imaginarien: So richten sich etwa interaktive Botschaften, den Widmungen im Radio vergleichbar, zumeist an FreundInnen oder Familie, die doch problemlos direkt erreichbar wären. Nicht zuletzt trennt die elektronische Interaktivität das Publikum entlang der Verfügbarkeit der jeweiligen Technologie und bewirbt sie jenen, die noch nicht darüber verfügen. Einen erfrischenden Eingriff in diesen problematischen Aspekt medialer Interaktion liefert das Graffiti Research Lab Vienna: Auf seiner Web-Site findet sich der Hinweis auf einen käuflich erwerbbaren Laserlichtwerfer in Handtellergrößer samt dazupassender Open-Source-Software. Ein technisches Gadget, das in findigen Händen leicht zum individual-anarchistischen Meinungstool wird; ein Bild vom Dezember 2007 zeigt eine urbane Flaneurin, die damit ihren trockenen Kommentar auf die gesamte Größe der Vorderfront eines städtischen Hochhauses wirft – »EIER.«
Es ist entscheidend festzustellen, dass die Produktion sozialer Räume durchaus nicht automatisch die Schaffung politischer Räume mit sich bringt; politische Räume sind nicht von Objekten bestimmt, vielmehr durch Kommunikation. Hanna Arendt bezeichnet das politische Handeln (durch das der politische Raum hervorgebracht wird) als ein »den Blicken der Anderen Ausgesetztsein« (Arendt 1981: 164). Angesichts der überdimensionalen Billboards heutiger Medienstädte, die das kommerzielle Angeblicktsein in monströse Größenordnungen potenzieren, mag es zweckdienlich sein, Arendts Bestimmung ein ›dem Anspruch, der Adressierung der Anderen Ausgesetztsein‹ hinzuzufügen. Wie eine solche Verschränkung von Anblick und Anspruch der Anderen zum medialen Ereignis verschmelzen kann, verbildlicht eine Episode aus dem Wien der 1990er. Damals entschloss sich das Medienkollektiv Kinoki, der Aufforderung ihrer türkisch-kurdischen FreundInnen zu folgen und am Donauinselfest eine Filmprojektion vorzunehmen, wenn auch ohne offizielle Genehmigung. Mit der Lizenz eines Kebap-Standes versehen, gelangten wir auf die Insel und bauten Leinwand und Projektoren auf; die Flüsterpropaganda unserer FreundInnen funktionierte ausgezeichnet – lange vor Einbruch der Dunkelheit waren über hundert Leute versammelt und nutzten die Zeit bis zur Projektion für Picknick und Plausch. Als die Lichtverhältnisse endlich den Einsatz des antiquierten mobilen 35mm Equipments erlaubten und die Projektionslampen aufleuchteten, gab es bereits vereinzelt Applaus. Als aber nach dem stummen Vorspann auch der Ton einsetzte, schien das Publikum kaum mehr zu halten: Gezeigt wurde Sürü von Zeki Ökten, und die mediale Präsenz einer unüberhörbaren Ansprache in Kurdisch war im öffentlichen Raum ungewohnt und wirkte hinter der Austropop-Bühne des größten Stadtspektakels durchaus befreiend – und für andere verstörend. Die Magistratsbeamten ließen nicht auf sich warten, und damit auch der Auftrag, die illegale Vorführung zu beenden. Ich bediente damals die Projektoren und erlebte einen jener kostbaren Momente, in denen die Handlanger technischer Maschinen, angekoppelt an größere soziale Maschinen zum Sprachrohr des darüber geschaffenen politischen Raumes werden: Ein erzwungenes Abschalten, erklärte ich den Beamten, müsse über die Tonanlage kommuniziert werden. Zu einer solchen Kommunikation fehlte dem Magistrat angesichts der noch angewachsenen Menge der Mut, und der Film wurde ohne Unterbrechung abgespielt.
In einer solchen Art der Schaffung politischer Räume wird das Medium im Durchkreuzen der linearen Logik, die von der Aktion zur Repräsentation führt, selbst zum Ereignis. Dabei beschränkt dieser Medienaktivismus seinen Einsatz nicht auf Dokumentation, er fordert vielmehr ein Aktivismus-Werden des Mediums heraus. Gerald Raunig beschreibt diese Prozesse als Ereignis und orgische Repräsentation im Medienaktivismus: »Hier fungieren die Zeichen, Aussagen und Bilder nicht, um Objekte oder Subjekte, um die Welt zu repräsentieren oder zu dokumentieren, sondern dazu, die Welt sich ereignen zu lassen.« (Raunig 2007) Die vielfältigen Praktiken von Guerilla-Screening, die durch überraschende und unangemeldete Interventionen im öffentlichen Raum Ereignisse provozieren, sind wichtige Elemente im Arsenal medialer Taktiken. Dabei treibt insbesondere die nicht autorisierte, vorübergehende Raumnahme über die Mechanismen der Gegeninformation hinaus. Oder, um es drastischer auszudrücken, nur erkämpfte Räume sind geliebte Räume.
Ein interessantes Setting zur Erforschung der Grenzbereiche solcher medialer Eingriffe entwickelte Jan Machacek 2006 in seiner mobilen Installation Vis-a-vis. Ein eigens konstruierter knallroter Datenhelm bot den BesucherInnen des Brunnenmarkts die Möglichkeit, eine besondere Art medialen Flanierens zu erproben: Im Inneren des Helms wurde die gesamte visuelle Rauminformation auf einem eingebauten Screen sichtbar, dessen Bilder wechselweise von einer am Helm montierten Kamera und einer Überwachungskamera aufgenommen wurden. Dadurch oszillierte die zwiespältige Erfahrbarkeit medialisierter Urbanität zwischen Sehen und Gesehen werden und machte die Bewegung am Marktplatz zum performativen Akt.
Vielerlei Interventionen gegen eine zunehmende Überwachbarkeit des öffentlichen Raums stützen sich auf Strategien der Übercodierung. Dabei wird die Semiosphäre der Stadt mit widersprüchlichen Zeichen angereichert, um die Lesbarkeit – genauer, die Verwertbarkeit – der produzierten Daten zu verwirren. Ein irritierender Eingriff dieser Art, den die Global Security Alliance 2008 plante, konnte aufgrund des Widerstands der Wiener Stadtverwaltung letztlich nicht verwirklicht werden: riesige, auf den Asphalt gepinselte Schatten virtueller Hubschrauber hätten wohl manche Verunsicherung über die vermeintliche Sicherheitsfunktion umfassender Überwachung ausgelöst.
Visuelle Konstruktionen von Wirklichkeit bedienen sich nicht zuletzt der Kartographie, um die Fiktion eines zusammenhängenden, bruch- und lückenlosen virtuellen Raums zu schaffen. In dieser Hinsicht erscheinen Unternehmungen a la Google-Earth und Co. als Versuche, eine Idee zu realisieren, die die literarische Fiktion von Jorge Louis Borges in einem imaginären 16. Jahrhundert ansiedelte. Borges beschrieb die Vision neuzeitlicher Kartographen, ein Simulakrum der Welt im Maßstab 1:1 anzufertigen, dessen Bruchstücke heute bisweilen von ArchäologInnen geborgen werden. Ein dem entgegengesetztes emanzipatorisches Anliegen, Löcher in solche vermeintlich flächendeckende Pixelierungen globaler Urbanität zu schlagen, findet im transnationalen Projekt Maki Uedas von 2004 zu faszinierendem Ausdruck: Hole in the Earth verbindet FlaneurInnen von Rotterdam und Bandung (Indonesien) mittels Videoscreens, die in die Gehsteige eingelassen sind. Live Bild und Tonübertragungen von den Screens der jeweils anderen Stadt ermöglichen dem Publikum eine Echtzeit-Interaktion und schaffen die Vorstellung eines transparenten, durch die Erde hindurchlaufenden Schachts. Hier wird der öffentliche Raum zu einem verbindenden Medium, das die StädtebewohnerInnen quer durch den physischen Raum hindurch zusammenhält und die Möglichkeiten eines transnationalen Imaginären erprobt.
Die letzte Station unseres Flanierens führt nach Sao Paolo, entdeckt eine unvermutete Perspektive auf die Dekonstruktion des Phantoms medialer Städte und beleuchtet einen wenig beachteten Aspekt von Mumfords Bild der Medienstadt als moderne Rekonstruktion von Platons Höhle. Brasiliens größte Megalopolis verbot 2007 alle überdimensionalen Werbeflächen im öffentlichen Raum und Vinicio Galvao, Reporter der Folha de Sao Paolo, berichtet von den erstaunlichen Folgen dieser flächendeckenden Demontage urbaner Billboards:
»Sao Paolo ist wie New York eine sehr internationale Stadt. Es gibt japanische, koreanische und italienische Viertel; insbesondere im koreanischen Viertel sind zahlreiche Kleinmanufakturen, in der die Arbeitskraft bolivianischer MigrantInnen illegal ausgebeutet wird. Vor diesen Manufakturen befanden sich Unmengen von Billboards und als sie demontiert wurden, konnte man durch die Schaufenster BolivianerInnen sehen, die in denselben Räumen arbeiteten und schliefen. Sie verdienen gerade mal genug zum Essen. Eine Menge sozialer Probleme sind sichtbar geworden und haben die Stadt schockiert.«
Es wäre irreführend anzunehmen, dass die ›wirkliche Wirklichkeit‹ sich immer hinter den medialen Fassaden ereignet, die Strategien der Sichtbarkeit produzieren blinde Flecken allerorts. Der Einsatz taktischer Medien ist geeignet, sie zum Schillern zu bringen.