Urbanisierung, Megalopolen, Sprawl. Die größten Ballungsräume liegen längst nicht mehr in Europa oder den USA, sondern in Asien. Erstmals lebt die Mehrheit der Menschheit in Städten. Als Zentren des weltweiten Austauschs von Waren, Dienstleistungen und Ideen rücken sie zunehmend ins Zentrum des Interesses. Nicht nur von Ökonomie und Politik, Militär und Sicherheitsorganen, sondern auch von Sozial- und Kulturwissenschaften.
Städtische Infrastrukturen sind gleichsam Umschlagplätze der Wissensarbeit, kognitiver Arbeitsleistung und kultureller Produktion. Noch vor hundert Jahren war ein Großteil der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, in Industriegesellschaften haben diese nur mehr einen Bruchteil dessen ausgemacht. Im postindustriellen Zeitalter schwindet der Anteil jener, die direkt an materiellen Produktionsprozessen beteiligt sind, noch schneller, und in den hochtechnisierten Städten des Westens werden die Konflikte und Widersprüche dieser Entwicklung dann auch virulent.
Europa, das geopolitisch noch immer eine eher untergeordnete Rolle spielt, ist sehr darum bemüht, mit regionaler Vielfalt und Heterogenität als dem immateriellen Kapital einer mobilen Informationsökonomie in Erscheinung zu treten. Cultural Diversity wurde schließlich auch 2001 in einer UNESCO-Deklaration mit dem Rang eines Welterbes der Menschheit versehen. Mit Blick auf vergangene Epochen imperialer Entfaltung rühmt sich Europa seiner kulturellen Leistungen. Zu Recht?
Seit Jahren dominiert der vermeintliche Aufstieg der "Kreativen Klasse" die Diskussionen zum sozioökonomischen Strukturwandel der westlichen Informationsgesellschaften. Die Auseinandersetzung mit einer kognitiven Marktwirtschaft und Mehrwertleistung erstreckt sich von der Creative Industries-Hysterie über halbherzige, zumeist sozialdemokratische Versuche, sich den Veränderungen der Wertschöpfungskette im soziokulturellen Bereich zu stellen, bis hin zu konservativen Spielarten der Kulturindustrie und ihrer Konvergenz mit Hightech-Monopolen. Vieles bleibt dabei fragwürdig, denn eine differenzierte Bewertung kulturellen Bestands benötigt eine kritische Reflexion, deren theoretische Grundlage aber dürftig erscheint. "Kulturhauptstädte", im Rotationsprinzip wie millionenschwere Trophäen quer durch Europa herumgereicht, können da kaum überzeugen.
Seit der Umwandlung Österreichs von einem Vielvölkerreich zu einem Kleinstaat sucht seine, nach dem Ende des Kalten Kriegs in globaler Bedeutungslosigkeit versunkene Hauptstadt Zuflucht in der Hoffnung, eine Kulturstadt zu sein. Österreichs Phantomschmerz nach dem Verlust des Imperiums führte zur Ausrufung einer imaginären Kulturnation. Ein virtuelles Traumland wurde rund um das Zentrum Wien erbaut, der Mythos einer Welt umspannenden Hegemonie, konstruiert unter Aufbietung aller kulturellen und intellektuellen Größen der ehemaligen Kronländer und Kolonien. Zunächst als "notwendige" Illusion zur Konstruktion von Nation erfunden und in weiterer Folge als "Touristenfalle" ausgebaut, entwickelte sich zwangsläufig eine marktwirtschaftliche Ökonomisierungslogik. Während sich österreichische Provinzstädte wie Graz und Linz mit einem Gemischtwarensortiment aus einem Hauch Zukunftsmusik, Rückbesinnung auf regionale Eigenheiten und dem Wetteifern um hochkulturelle Wettbewerbsfähigkeit als "Kulturhauptstädte Europas" inszenieren, sieht Wien seinen Standortvorteil vor allem in der Vermarktung des kulturellen Erbes. Die Stadt selbst wirkt wie ein Museum, auf Gutsherrenart verwaltet zwischen imperialen Fassaden und Fin de siècle-Kitsch. Die endlose Reproduktion historischer HofKultur und bürgerlicher Künste gilt als touristische Investition
In einem derartigen Umfeld muss jeder Versuch, kulturelle Stadtentwicklung avanciert zu positionieren, scheitern, wie sich etwa in einem der größten Baumaßnehmen der vergangenen Jahre, dem Museumsquartier, eindrucksvoll zeigt. Zunächst als Experimentierfeld konzipiert und mit Mitteln der Kunst- und Kulturförderung finanziert, ist das MQ längst zu einer gastronomischen Konsumzone verkommen, die mit enormem Marketingaufwand vermeintlich hohe Publikumskontakte erwirtschaftet.
Dabei zeigt sich auch ein grundlegender Widerspruch. Manisch-konservative Nostalgie mag vielleicht touristischen Mehrwert und Eigenständigkeit schaffen, aber nur überregionale Durchlässigkeit und die Dynamik transnationalen Austauschs eröffnen eine globale Bühne. Als Zentren konkurrierender Regionen funktionieren Städte nur im Konzert, durch Interaktion und Kooperation. Die politische Kultur, mit ihrer langen Tradition von Feudalherrschaft und technokratischer Bürokratie, erweist sich hierzulande als unverwechselbar. "Wien ist das politisch korrupteste Nest auf der ganzen Welt", notierte Mark Twain nach einem Besuch schon 1899. Mehr als hundert Jahre später bestätigt der wegen Amtsmissbrauch verurteilte Stadtpolizeikommandant: "Nach meiner Wahrnehmung existiert hier ein tiefer Sumpf …" Transparency International sieht Korruptionsbekämpfung dort gefordert, wo institutionelle Kontrolle der Macht fehlt, Entscheidungsfindung unklar bleibt und der Boden der Zivilgesellschaft dünn gehalten wird. In vielen Ländern und dysfunktionalen Systemen mag Korruptheit von Obrigkeit und Amtsorganen oft als ein heimlicher Segen angesehen werden. Aber als pandemische Form einer internalisierten kulturellen Praxis, die auf dem Korruptionsindex gar nicht erst abgebildet werden kann, wird es zu einer Verschwörung des servilen Mittelmaßes.
Eine kritische Bewertung von Kultur muss vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Umbruchs gesehen werden, der von Versatzstücken einer wirren Ideologie aus Kreativwirtschaft, Neoliberalismus und Globalisierung getragen wird. Inmitten dieser weltanschaulichen Gemengelage dient Kunst bestenfalls als Dekoration für Konzerne, als Distinktionsmerkmal profithungrigen Sponsorings, oder als ästhetisiertes Statussymbol für vermeintliche Eliten.
In der "Massenkultur", verortet im Zeitalter individualisierter digitaler Medien, in dem sich das vereinzelte und dezentralisierte Individuum im Netz der Medienkonzernen zunehmend verfängt, erlebt Fragmentierung als politische Waffe eine neue Dimension. Eine neue urbane Geographie der Klassengesellschaft und des Unternehmertums in der Stadtentwicklung schafft stratifizierte Zonen und Sphären simulierter Öffentlichkeit. Die Kontrolle des städtischen Raums zur Etablierung von Dominanz durch die Produktion von urbanem Raum erstreckt sich nicht zuletzt auf kulturelle Räume und die symbolische Institutionalisierung von Macht. Konzeption und Ideologie der strukturellen Bewusstseinsindustrie von Kultur und Medien entwickeln dabei unweigerlich direkte Auswirkungen auf unsere urbanen Realitäten. Der Einfluss auf alltägliche Lebenswelten betrifft nicht nur die Arbeitsverhältnisse. Die Stratifizierung städtischer Räume formt dabei auch die Hegemonie über informelle Bildung, Insignien und Weltbilder.
Die Sichtbarkeit der konstitutiven Elemente einer Gesellschaft ist Gradmesser für die demokratische Repräsentation jener, die daran teilnehmen oder von der Teilnahme ausgeschlossen bleiben. Städte brauchen Sichtbarkeit – nicht zuletzt zur Gewährleistung der Transparenz von Politik, Justiz und Verwaltung. Aber sie müssen auch Unsichtbarkeit garantieren, die individuelle Anonymität und Souveränität von Menschen. Nicht nur Plätze, Verkehrswege und Infrastruktur müssen zur Verfügung stehen, sondern auch Freiräume und Nischen. Denn nicht in den selbsternannten Zentren der Orthodoxie werden neue Ideen geboren und genährt. Die Förderung von Differenzierung, Experiment und Dissens erscheint daher auch als eine elementare Vorbedingung zur Erschließung urbaner Räume.
Werden Kunst und Kultur demzufolge zu urbanen Agenturen von Grundstücksspekulation und Gentrifizierung? Welche Wege bleiben Kulturschaffenden noch offen, um sich eine globale Dynamik zu Nutze zu machen, ohne von repressiv-toleranten Kräften in Politik und Finanz restlos vereinnahmt und korrumpiert zu werden? Die Analyse urbaner Entwicklungen im Kontext der Globalisierung muss sich der neuen multipolaren Dynamik im Spannungsfeld von Zentrum und Peripherien zuwenden. Sie erfordert ein neues Verständnis von Räumen, die – weil sie prozesshaft sind – keine feste, unveränderliche Form und Identität haben, was wiederum die Trennung von Innen und Außen verwischt.
Die wirtschaftliche Vereinnahmung von Kultur, kultureller Symbolmanipulation und dem Raum des öffentlichen Gedächtnisses ist freilich nicht nur eine Bedrohung – sie bietet auch eine Chance. Jenseits bürgerlicher Totenkulte und künstlerischer Flachware zum Zwecke der Spekulation sind dringend Strategien geboten, um Mechanismen der kulturellen Machtausübung mit einer kritischen und emanzipatorischen Praxis in Kunst und Kultur zu konfrontieren. Das Primat der Ökonomie formt die soziale Realität, aber Geld selbst ist letztlich kein physikalischer Gegenstand, sondern Ausdruck sozialer Beziehungen. Der Zugriff auf kritisch-strategisches Denken ermöglicht es, die Spielregeln dieser Relationen zu hinterfragen, kritisch zu überprüfen und neue andere Beziehungsmuster zu verfolgen. An diesem Punkt setzt der vorliegende Sammelband an. In Phantom Kulturstadt unternehmen 29 Autorinnen und Autoren den Versuch, den urbanen Raum als eine Konfliktzone zu begreifen. Als ein Territorium des 21. Jahrhunderts, in dem sich globale Entwicklungen, gesellschaftliches Verwerfungen und eben auch ein asymmetrisches Kräftemessen manifestieren. Zwischen jenen, die über Kultur und Hoheitszeichen nach Festigung ihrer Regime trachten, und jenen, die mit Überwachung und sozialer Kontrolle in einem schier unentrinnbaren Status der Macht- und Sprachlosigkeit gehalten werden. Dieser Bogen wird weit gespannt, er erfasst internationale Schauplätze wie Detroit, Dubai, Barcelona und Amsterdam und lässt sich in fünf Gruppen gliedern, die zugleich die Vielzahl der Perspektiven widerspiegeln. Den Auftakt macht die Einordnung in ökonomische Zusammenhänge.
Der Trend zu City Brandings ist nicht nur ein Indiz für den Vormarsch der "Gefühlsdemokratie" in die Stadtentwicklung, sondern auch Ausdruck einer Privatisierung der Kulturpolitik, die nicht zuletzt auch in den "Kulturhauptstädten Europas" Graz 2003 und Linz 2009 nachhaltige Spuren hinterlassen hat. Der zweite Block beleuchtet den urbanen Raum als Aufmarschgebiet zur Herstellung von Ruhe und Ordnung. Der psycho-soziale Zugriff auf das Individuum, kulturelle Fragmentierung sowie auch polizeiliche Repressionen erfordern strategische Reflexionen und Denkanstöße, wie sich Freiräume überhaupt noch erkämpfen lassen. Kunst und Kultur, in diesem Band der dritte und vierte Rahmen, nehmen auch in dieser Frage eine antizipative Rolle ein. Verstörende Interventionen in die Zeichensysteme von Unterdrückung und Angst sind dabei ebenso von Interesse, wie auch künstlerische Praxen, die im städtischen Umfeld mit einer selbstbestimmten Bild- und Bedeutungsproduktion gegen Rassismus, Sexismus und Gewalt antreten. Abschließend kommt der kämpferische Anspruch des Buches insofern zur Geltung, als die sozialen Gegensätze nicht als drohendes Unheil skizziert und bewertet werden, dem nur mit Phantomgebilden einer für alle annehmlichen Kulturstadt beizukommen sei, sondern als eine Situation, die adäquater Schlussfolgerungen bedarf. Schon heute zeichnen sich mit der Umgestaltung der Städte deutliche Konturen ihrer Zukunft ab. Kulturpolitik darf sich diesen Entwicklungen nicht verschließen.