Soundpolitisierung rund um Blau-schwarz
Der deutschen Zeitschrift "De:Bug – Magazin für elektronische Lebensaspekte" ist in ihrer 37. Ausgabe vom Sommer 2000 ein Fehler unterlaufen, der so amüsant wie vielsagend ist. In einem Artikel mit dem Titel "Electronic Resistance" wird über die Mobilmachung der österreichischen Elektronik-Szene gegen die damals neue blau-schwarze Regierung berichtet. Ganz am Ende des Textes findet sich die URL zu einer der Protestplattformen – www.volkstanz.at. Folgt man dieser, gelangt man freilich nicht zu den damals aktiven Anti-FPÖVP-AktivistInnen, sondern zur Website eines Auslandsösterreichers über Gstanzln, Wienerlieder und Trachten. Dem klischeebeladenen Bild von Österreich als konsensfreudiger Traditionsnation wird damit wohl eher entsprochen als mit den soundpolitischen Aktionen von volkstanz.net.
Trotzdem waren diese Manifestationen von Widerstand zu jener Zeit ein identifikatorisch essenzieller und konstituierender Teil der Wiener Szene, der mit der downbeatig gedämpften Kaffeehaus-Lethargie, die zu diesem Zeitpunkt presseseitig immer noch die Runde machte, nichts gemein hatte. Der kollektive Schock, den die Angelobung der rechtspopulistischen Regierung auslöste, hatte etwas von einem rabiat angewandten Defibrillator, der eine ganze – heterogene – Community in fiebrigen Aktionismus schießen ließ. Viel war damals rund um die Aktivitäten von Electronic Resistance, Volkstanz.net, FREE RE PUBLIC et al unter dem heiß debattierten Etikett "Soundpolitisierung" zu sehen und zu lesen – von den samstäglichen Volkstanz-Paraden über Diskussionsveranstaltungen und Filmabende bis zur Theoriebildung. Die vielbeklagte "angeblich unpolitische Wiener Musikszene" trat angriffslustig gegen "Rassismus, Sexismus und Sozialabbau" auf den Plan. Unter dem Motto "Die Kunst der Stunde ist Widerstand", von dem sich ein Gros der Kulturschaffenden mitreißen ließ, war es vor allem die elektronische Musikszene, damals noch mit der Gunst der Stunde der medialen Aufmerksamkeit versehen, die sich mit lautstarkem Protest hervortat. Während der Faktor "Spaß" in Verbindung mit Techno oft als Negativmarker für dumpfe, apolitische Loveparade-"Gude Laune" rezipiert wird, verhielt es sich hier anders. Trotz der als deprimierend und ausweglos empfundenen politischen Situation war es genau jener "Spaß" an der neuen Politisierung durch die und mit der Musik, der ganz im Sinne afroamerikanischer House-Dancefloors die (dort: sexuell-ethnischen, hier: politischen) Minderheiten bzw. DissidentInnen galvanisierte und für ein gemeinsames Ziel mobilisierte. Man suchte nach innovativen Protestformen und fand sie in den Volkstanz-Radiodemos sowie Live-Übertragungen von Auseinandersetzungen mit der Polizei via dem freien Radio Orange 94.0, man besetzte Plätze und blockierte Straßen, organisierte Rundfahrten durch ganz Wien und scheute auch keine stundenlangen Fußmärsche im Schneetreiben bis zur ORF-Zentrale am Küniglberg. Ebenso wenig scheute man die dafür notwendigen inhaltlichen Auseinandersetzungen, aufreibende Organisationsarbeit und basisdemokratische Plena, die für nicht wenige der erste nachhaltige Kontakt mit solchen selbstorganisierten Strukturen war.
Nun ist es ja so: Kulturbetrieb und Popjournalismus sind gezeichnet von einem geradezu brennenden Verlangen nach dem politischen Gehalt popkultureller Äußerungen. Spätestens seit der alterslosen Durchdringung des globalen Alltags durch das Popprinzip, dessen unherausgeforderte Hegemonie sich daran ablesen lässt, dass selbst alte Säcke wie Tony Blair oder Papst Benedikt XVI sich nicht nur als Popstars inszenieren, sondern auch als solche gefeiert werden, manifestiert sich diese Sehnsucht nach Bedeutsamkeit und einem Außen zum Status quo. Dabei lässt sich seit Jahren eine groteske Dynamik beobachten: je mehr den "Kids" unterstellt wird, sich so gar nicht mehr für Politik und Widerstand zu interessieren, desto mehr Einladungen flattern alternden PopdiskursproduzentInnen ins Haus, bei denen eine "Repolitisierung der Popkultur" beschworen oder das Verhältnis von "Pop und Politik" diskutiert werden soll. Während die Widerständigkeit mehr oder weniger klassischer – also mit Worten versehener – Protestsongs relativ problemlos auf einem imaginären Politometer verzeichnet bzw. verhandelt werden kann, zaubert textlose Musik vielen RezipientInnen nach wie vor ein Fragezeichen auf die Stirn. Wer es wagt, diese Ratlosigkeit zu verbalisieren, fragt meist ganz platt und direkt: Kann Techno politisch sein?
"Raver [...] sind weder eine Subkultur im Sinne der jugendlichen Variante einer proletarischen Kultur, noch eine Gegenkultur, die sich bewusst und aggressiv gegen die hegemoniale Kultur richtet", beantwortet die deutsche Soziologin Gabriele Klein in ihrem Buch "Electronic Vibration" dieses Begehr erst einmal abschlägig. "Techno-Fans eignen sich nicht unbedingt, zu einem die Fundamente der bürgerlichen Rechtsordnung bedrohenden politischen Kollektivsymbol hochstilisiert zu werden." (Klein: 56). Klein positioniert die 'Authentizitäts-Kultur' der an sinnstiftenden Protestliedern geschulten 78er-Generation als Antagonistin der Techno-Bewegung: "Techno [...] ist die Marschmusik der postindustriellen Gesellschaft; ihr Beat zerschlägt die Hirne, terrorisiert die Körper und fördert mitunter auch faschistoide Tendenzen. Von Widerstandspotenzial oder gar einer Gegenkultur kann dieser Sichtweise zufolge bei Techno nicht im mindesten die Rede sein", charakterisiert sie diese ablehnende Haltung. "Die Techno-Kultur [...] erscheint als ein sinnloses, weil entpolitisiertes Fest, als ein diskursfernes Unternehmen, als eine eruptive Feier kultureller Entfremdung" (Klein: 71).
Das Bedürfnis nach Diskurs produzierender Bedeutung wird bei Klein durch die Verschiebung auf eine andere Ebene, nämlich die der ästhetischen Innovation, erfüllt: "Liest man die Club- und Rave-Kultur als eine ästhetische Kultur, die den Körper ins Zentrum gerückt hat, dann kommt in ihr nicht nur ein Wandel des Begriffs des Politischen zum Ausdruck, sie erscheint auch als kulturelles Feld, in dem sich eine umfassendere Veränderung der Kommunikationsformen abzeichnet, die dem Körperlichen und Sinnenhaften eine größere Bedeutung beimisst". (Klein: 76). Doch wo Klein mit ihrer Apologie nur das Symbolhafte von Körperlichkeit und Ästhetik im Blick hat, übersieht sie ganz das Potenzial von Rahmenbedingungen, Strukturen und strategischen Einsätzen.
Das hauptsächlich von nicht-weißen Männern in Detroit betriebene Techno-Label Underground Resistance wird immer wieder zitiert – und so auch von mir, man möge mir diese Redundanz verzeihen -, wenn es darum geht, die Politikfähigkeit elektronischer Musik zu beweisen. Auf der Website der sich ästhetisch gerne paramilitaristisch bzw. –terroristisch gerierenden losen Organisation – ihre Live-Auftritte nennen sie "assaults" – heißt es unter dem Menüpunkt "Creed", also in etwa Glaubensbekenntnis: "Underground Resistance is a label for a movement. A movement that wants change by sonic revolution. We urge you to join the resistance and help us combat the mediocre audio and visual programming that is being fed to the inhabitants of Earth, this programming is stagnating the minds of the people; building a wall between races and preventing world peace. It is this wall we are going to smash. By using the untapped energy potential of sound we are going to destroy this wall much the same as certain frequencies shatter glass.” Hier wird das System zersetzende Potenzial der direkten ästhetischen, d.h. musikalischen Erfahrung angeführt – Techno ist bei UR immer auch eine Chiffre für Experiment und Zukunft –; eine Revolution durch sonische Innovation. Politik wird hier nicht kognitiv über Text vermittelt, sondern ästhetisch-künstlerisch durch Sound und Konzept. Ein sich von der Loveparade-Techno-Variante, die Kleins Untersuchung größtenteils informiert, klar abhebender Entwurf, der sich für die Formulierung konkreter politischer Anliegen aber nur bedingt eignet.
Diesen Traum vom per se subversiven Klang, der ja mit der Gründungsmythos des 1989 aus der Taufe gehobenen Labels ist, wurde 2000 in dem im Zusammenhang mit den Protesten gegen Blau-schwarz entstandenen Text "Was heißt Soundpolitisierung?" von Oliver Marchart abserviert: "Heute ist dieser Subversivitätsmythos – die Vorstellung, irgendein Sound sei an sich schon subversiv – abgeschrieben." Marchart bezieht sich mit seinem Abgesang auf das leicht ironisch betitelte Genre des "Deuleuze-Technos", der besonders von Achim Szepanski und seinem Force Inc.- bzw. Mille Plateaux-Label unter der Vorstellung von befreiten bzw. störenden Klangströmen gepflegt wurde. Dessen elitärer bzw. minoritärer Charakter führte selbstverständlich dazu, dass diese Musik ein weißer Akademie-Hype blieb und nicht wie in Detroit die Nähe einer schwarzen, als soziales Ganzes imaginierten Community suchte.
Warum Marchart in dem auf der Website von Volkstanz.net publizierten Text trotzdem "Von der Politik des Sounds zum Sound der Politik" kommt, beantwortet er nach einer selbst aufgeworfenen Frage folgendermaßen: "Was ist der Unterschied zwischen Ideologie und realer Politik, und was heißt Politisierung? Der wesentliche Unterschied ist, daß das Politische nicht mehr im Sound selbst, im Material (z.B. der Digitalität) oder in ihren angeblich demokratischen Produktionsbedingungen gesucht wird. Man geht nicht mehr davon aus, daß elektronische Musik an sich subversiv oder fortschrittlich oder befreiend sei. Man geht überhaupt nicht mehr von Subversion aus, es sollen auch keine Klangströme befreit werden. Vielmehr geht es darum, daß eine bestimmte Szene oder Community sich öffentlich der Opposition gegen eine Regierung anschließt und das mit den ihr zu Verfügung stehenden Mitteln demonstriert. Darin besteht ihr Politik-Werden. Es geht also nicht um die imaginäre oder selbsteingebildete subversive Widerständigkeit gegen alle und keinen (wobei der Feind unbenannt bleibt), sondern um die Ankoppelung an eine real existierende politische Bewegung, die einen sehr klar und öffentlich benannten Feind hat. Das heißt reale Politisierung im Unterschied zu eingebildeter." (ibid.)
Die Politik-Werdung manifestiert sich hier also in der Urbar-Machung von Sound für ein konkretes politisches Ziel. Doch warum, wenn der Klang nur inhaltlich nicht aufgeladene Materie, nur Rahmen ist, wenn die Demo ein 'Schweigemarsch mit Soundtrack' ist, warum dann Techno? Warum keine Volksmusik? Nur aufgrund des erhebenden Gefühls, die "bessere Musik" zu hören? Wohl kaum. Aufgrund der galvanisierenden Erfahrung des "Partying"? Schon eher. Die Politik muss der Musik nicht inhärent sein, sondern sie kann durch deren Erfahrung in den tanzenden Körpern ausgelöst werden, wie Liam Singer in seiner Rezension zu Fela Kutis "The Underground Spiritual Game" beschreibt:
"Wide-eyed ravegoers have often told of the communal catharsis that can occur after several hours of dancing, and of the spiritual relevance surrounding their experience of simultaneous individual expression and total absorption within a crowd. Unfortunately, what often leaves these people ultimately disillusioned or feeling empty is the lack of ideological substance behind the power of the party. Modern American and European musicians have rarely figured out how to steer the positive, beat-driven galvanization that occurs on the dancefloor toward a larger purpose, such as political action."
Hier also ein Gegenbeispiel. Ich wage weiter zu behaupten, dass neben den intrinsischen Distinktions-Codes, die über das vermeintlich rein ästhetische Empfinden hinaus immer auch politische bzw. Szene-Codes in die Musik und ihre HörerInnen einschreiben, umgekehrt auch die Musik über das Abspielen in einem spezifisch politischen Kontext mit Bedeutung aufgeladen wird und diese wiederum in der Rezeption freisetzen kann. Eine latent esoterische Vorstellung, gewiss, die aber mit ihrer zerfaserten, nicht kartographisch nachvollziehbaren Wechselwirkung der Vorstellung von organischen Netzwerken und produktiver Beeinflussung ziemlich nahe kommt, die Grundlage von politischem Grass-Roots Activism ist.
Sicherlich drängt sich nach der Erfolglosigkeit der Proteste auf makropolitischer Ebene – die Regierung wurde schließlich nicht gestürzt, sie wurde nicht einmal angekratzt – die Frage nach der Validität bzw. rein selbstreferentiellen Eitelkeit popkulturell unterfütterten Widerstands auf. Was wurde aus der von Marchart geforderten "After-Hour-Politisierung"? Spontaner Protest lässt sich auf Dauer nicht in einem Zustand der Instabilität halten, so viel ist klar – was nicht heißt, dass es keinen Wechsel zu weniger spontanen, nachhaltigeren Strukturen geben kann. Wie es auch ebenso nicht heißt, dass diese Form von, ganz altmodisch feministisch, "consciousness raising" nicht Wege unter der Oberfläche gelegt hat, die irgendwo wieder zu einer Eruption führen. Man darf sich nichts vormachen, aber immerhin.