Für eine radikale Demokratisierung der Medienpolitik
Ein Vorschlag zur Utopie. Es ist wohl recht aussagekräftig, dass sich das lateinische Adjektiv publicus – von dem sich wiederum die deutschen Wörter Publikum und Publizität oder das englische Adjektiv public, das in public sphere oder public broadcasting steckt, herleiten – etymologisch vom lateinischen Wort populus ableitet. Es ist heute vollständig unserer Erinnerung entglitten, dass es eine ursprüngliche Verbindung zwischen der Öffentlichkeit und dem populus (oder demos) geben sollte. Denken wir heute an Medienöffentlichkeiten oder gar öffentlich- rechtliche Rundfunkanstalten, so käme uns nie ein populares Subjekt, wie es besonders in der Tradition demokratischer "Volkssouveränität" gedacht wird, in den Sinn. Nur als Gegenstand gouvernementaler Regierungstechnologien – etwa der Zuseherforschung – kommt der populus in Form des Objekts "Bevölkerung" in den Blick, nie jedoch als populares Subjekt, das in irgendeiner Form in und über die Medien seine demokratische Souveränität ausüben würde.
Als "Subjekt" tritt uns der demos also zumeist nur in Gestalt des "mündigen" Konsumenten entgegen. Doch das Feld, auf das hin Konsumenten orientiert sind, ist nicht etwa die Öffentlichkeit, sondern die Pseudo-Demokratie des Marktes, die mit dem Wortfeld von publicity beschrieben wird. Der Marktdiskurs schwappt wiederum zurück auf die Politik, wo mit einem Mal das Subjekt der Politik zum Marktsubjekt des Konsumenten umdefiniert wird, der "mündig" und in aller Freiheit aus einer gegebenen Angebotspalette (z.B. politischer Parteien) seine Auswahl trifft. Sofern sich die Angebote hingegen in letzter Instanz als weitgehend identisch erweisen werden, bleibt es bei einer Wahl, die keinen Unterschied macht – und damit bei einer unpolitischen Wahl, denn Politik beginnt erst mit Entscheidungen, die einen Unterschied machen. Der Mediendiskurs der Einschaltquoten ist durchwegs kompatibel, wenn nicht komplizitär mit diesem weiteren hegemonialen Prozess der Redefinition jenes Subjekts, das in der Demokratie als Souverän gilt und das wir als populus bezeichnet haben. Dem populus werden auf diese Weise die Optionen genommen, seine Souveränität zu aktualisieren. Denn sobald uns nur eine Wahl gelassen wird, die keinen wirklichen Unterschied macht, haben wir gar keine Wahl – wir sind damit unserer Kapazität, politisch zu handeln, und also öffentlich zu handeln, beraubt. Wenn es nun zutreffen sollte, dass im gegenwärtig dominanten Diskurs der publicity der populus gar nicht erscheint – es sei denn in Form von Einschaltquoten oder gebührenpflichtigen call-in-shows –, dann lässt sich daraus umgekehrt ein positives Merkmal radikaldemokratischer Medienpolitik ableiten: Wenn "Öffentlichkeit" von populus kommt, dann müssen "öffentliche Medien" populare Medien sein und nicht Staatsmedien oder Cliquenmedien oder Marktmedien.
Doch was bedeutet das in der Praxis? Offensichtlich wäre das letzte, was ich vorschlagen wollte, dem populus eine völkische Bedeutung zu geben. Es handelt sich also nicht um ein ethnisches Subjekt. Dies wäre die totalitäre Bedeutung von "Volk" und es liegt auf der Hand, dass ethnisierte Formen von Öffentlichkeit eher bekämpft als gefördert werden müssen. Ein demokratisches Verständnis von populus als demos ist davon zu unterscheiden, denn hier geht man nicht davon aus, dass der populus bereits vorgängig in der empirischen Realität gegeben ist. Der demos der Demokratie ist genauso desubstantialisiert wie die Öffentlichkeit. Beides darf nie als bereits gegeben verstanden werden – als substantieller "Volkskörper" oder als institutionelles Gerüst der Massenmedien –, sondern entsteht erst im Augenblick seiner demokratischen bzw. popularen Aktualisierung. Das populare Subjekt aktualisiert sich nur in zwei desubstantialisierten Formen: als citizen oder Aktivbürger (als ein Subjekt mit Rechten) und als plebs oder Nichtbürger (als Subjekt ohne Rechte), d.h. als vom citizen-Status ausgeschlossenes politisches Abjekt. Die demokratische Subjektivierung besteht nicht allein im Aktivwerden des "Zivilbürgers ", sondern auch – wie eine Reihe politischer Theoretiker (Agamben, Rancière, Laclau) vorgeschlagen haben – im populus- Werden der plebs, in der Forderung nach Einschluss durch die Ausgeschlossenen, wodurch genau Öffentlichkeit generiert wird. Eine Öffentlichkeit, die solchen Gruppen weder Zugänglichkeit noch Sichtbarkeit gewähren kann, ist keine Öffentlichkeit in irgendeinem sinnvollen Verständnis. Aus diesem Grund muss ein Verständnis des öffentlichen Raums als popularer Raum wiedererweckt, oder genauer: neu erfunden werden. Ein radikaldemokratisches Projekt muss zur gegenhegemonialen Subjektivierung des populus entlang der beiden Figuren des citizen und der plebs beitragen und darin der herrschenden Hegemonie begegnen, von welcher der populus als Konsument oder als nationales oder ethnisches Subjekt definiert wird.
Die öffentlichen (oder "öffentlich-rechtlichen") Medien können in diesem Sinne nur wirklich ge-öffnet werden, d.h. zu wirklichen Öffentlichkeiten gemacht, wenn ein radikaldemokratisches Projekt diesen hegemonialen Kampf aufnimmt. Das heißt, dass es für ein solches Projekt nicht ausreicht, über eine gute "Medienpolitik" zu verfügen, es benötigt eine gute politische Politik. Anders gesagt: Die öffentlichen Medien können nur in wirkliche Öffentlichkeiten transformiert werden, wenn diese Transformation Teil eines breiteren politischen Projekts ist, das weitere politische Felder – wie etwa Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik, Schulpolitik, etc. – umfasst. Jede Anstrengung, die Medien zu demokratisieren, muss statthaben innerhalb einer sehr viel umfassenderen Anstrengung, die Gesellschaft zu demokratisieren; ansonsten wird sie erfolglos sein.
Aber wie soll eine solch radikaldemokratische Gegenhegemonie konstruiert werden? Offensichtlich handelt es sich um einen schwierigen und langfristigen Prozess, der auf einer Vielzahl von Ebenen und in einer Vielzahl gesellschaftlicher Teilbereiche stattfinden müsste. Er würde die Demokratisierung der Schulen und anderer Erziehungs- und Ausbildungsinstitutionen genauso umfassen wie die Demokratisierung der Arbeitsverhältnisse. Und natürlich würde er die Demokratisierung der Medien beinhalten. Diesen würde eine andere Aufgabe zukommen. Sie dürften nicht länger als Unterhaltungsmedien nach dem Motto von panem et circenses auftreten, sondern müssten nach dem Modell des forum strukturiert werden. Das bedeutet, dass sie die institutionellen Bedingungen dafür bereitstellen müssten, damit der populus (in Gestalt des cives und der plebs) Zugang erhält und seine Stimme öffentlich hörbar machen kann. Sie müssten von Räumen der Exklusion zu solchen der Inklusion werden und Plattformen zur Versammlung und zum – konfliktuellen – Debattieren der unterschiedlichsten Fragen des "öffentlichen Interesses" werden. Dies wiederum kann nur gelingen, wenn solche Räume oder Plattformen dem populus als Produzenten übergeben werden (im gleichen Sinne, in dem Benjamin vom Künstler als Produzenten sprach) – also auf institutioneller Ebene, was beinhaltet, dass Formen der Selbstverwaltung dieser Medienplattformen entwickelt werden, so dass sie nicht länger – und sei es vermittelt – vom Staat oder von politischen Parteien kontrolliert werden.
Nun, dies alles mag ziemlich utopisch klingen. Man sollte aber bedenken, dass ein solches radikaldemokratische Programm der Medienpolitik nicht mit einem Schlag und in Bezug auf alle öffentlichen Medien umgesetzt werden muss. Würde es in vollem Umfang umgesetzt, käme es natürlich der vollständigen Abschaffung öffentlich-rechtlicher Medien in ihrem bisherigen Verständnis gleich. Aber man muss überhaupt nicht phantasieren, dass das staatliche Fernsehen die Sendeorte des Hauptabendprogramms den anstürmenden Massen aushändigen solle. Worum es realistischerweise geht, ist etwas ganz anderes. Es geht um die gesetzliche Verpflichtung der öffentlichen Medien, einen Teil ihrer Produktionsmittel und Ressourcen einer breiteren Öffentlichkeit und demokratischen Medienplattformen zur Verfügung zu stellen. Und weiter: Sollte es zum politischen Legitimationsziel werden, so viele soziale Bereiche wie möglich zu demokratisieren – einschließlich der öffentlichen Medien –, so würde dies die Reallokation öffentlicher Gelder rechtfertigen. Bekanntlich werden die meisten öffentlich-rechtlichen Medienanstalten derzeit in großem Ausmaß durch verpflichtende Zusehergebühren getragen. Sollten diese Medien aus welchen Gründen auch immer keinen öffentlichen Zugang zu Teilen ihrer Infrastruktur gewähren – und dies ist in näherer Zukunft wohl der wahrscheinlichste Fall –, dann muss ein Anteil der Gebühren an jene Medienplattformen der Zivilgesellschaft gehen, die tatsächlich den institutionellen Rahmen bereitstellen, der zum Entstehen von dauerhafteren Öffentlichkeiten notwendig ist. Diese Gebührenanteile müssen also an alternative und demokratische Medieninstitutionen umverteilt werden.
All diese Maßnahmen einer demokratischen Medienpolitik setzen allerdings eine Verschiebung der politischen Hegemonieverhältnisse voraus. Sie involvieren einen breiteren und langfristigeren Prozess der Politisierung/Demokratisierung der Gesellschaft, innerhalb dessen die Demokratisierung der Medien eine gewiss zentrale Rolle spielt, aber nicht die einzige Rolle. Es ist vor allem notwendig, den Konsens darüber, was als legitim gilt und was nicht, zu verschieben. Das heißt, ein neuer demokratischer Konsens, eine neue demokratische Hegemonie wird hergestellt werden müssen.
Ziehen wir also ein paar simple Schlussfolgerungen: